Im Interview erklärt ITler Clemens Utschig-Utschig  Boehringer Ingelheim  wie Quantencomputer die Entwicklung von Arzneimitteln besser machen könnten. Foto: © iStock.com/metamorworks
Im Interview erklärt ITler Clemens Utschig-Utschig Boehringer Ingelheim wie Quantencomputer die Entwicklung von Arzneimitteln besser machen könnten. Foto: © iStock.com/metamorworks

Was hat der Patient von Big Data?

In Deutschland herrscht Nachholbedarf: Bei der Nutzung von Gesundheitsdaten sind andere Länder schon weiter. Dabei liegt hier ein Schatz vergraben: Die wissenschaftliche Auswertung großer Datenmengen kann die Gesundheitsversorgung deutlich verbessern. Und Pharmaunternehmen wollen sie nutzen, um gezielter Medikamente zu entwickeln.

Daten. Jede Menge Daten. Die UK Biobank speichert die Gesundheitsdaten von 500.000 Freiwilligen. Es sind Menschen zwischen 40 und 69 Jahren. Sie füllten Fragebögen aus und haben Blut-, Speichel- und Urinproben abgegeben. Außerdem haben sie sich bereit erklärt, sich medizinisch regelmäßig durchchecken zu lassen. Ihre „Gesundheitskarriere“ soll 30 Jahre lang verfolgt werden. Ihr genetisches Profil – natürlich anonymisiert – ist seit 2012 offen für die Forschung. Das Ziel der Biobank: In einem Meer von Daten die Erforschung der Rolle genetischer Dispositionen und von Umwelteinflüssen (z.B. Ernährung, Lifestyle, Medikamente) bei der Entwicklung von Krankheiten zu erleichtern.

Wozu das gut sein kann, zeigen gerade erst veröffentlichte Daten zu NASH. Die Abkürzung steht für „Non-alcoholic Steatohepatitis“, eine Erkrankung, bei der entzündliche Veränderungen in einer Fettleber (lat. Steatosis hepatis) auftreten. Die Steatohepatitis  gilt als eine der häufigsten Ursachen für eine Zirrhose , bei der Leberzellen absterben. Bisher dachte man, dass maximal drei Prozent der britischen Bevölkerung mit einer solchen nichtdiagnostizierten Fettleber leben. Das ist wohl eine Fehleinschätzung: Nach Auswertung der UK Biobank glauben die Experten nun, dass es eher 12 Prozent sind. Judi Rhys, Vorsitzende des British Liver Trust, kommentiert das so: „Die Studie deutet darauf hin, dass die Prävalenz  von NASH in Großbritannien deutlich höher ist als wir bisher dachten – in dieser Population sogar höher als Diabetes Typ II.“

Die Ergebnisse sind ein Beispiel dafür, wie die Auswertung von großen Datenmengen Wissenslücken schließt – und es ermöglicht, entsprechend darauf zu reagieren. Denn nur wer die Diagnose kennt, kann sich behandeln lassen oder seinen Lebensstil entsprechend umstellen. Gezielt medikamentös behandeln lässt sich NASH übrigens noch nicht – aber zahlreiche Wirkstoffkandidaten haben forschende Pharmaunternehmen bereits in der Pipeline. Die aus der UK Biobank generierten Daten zeigen, wie dringend sie gebraucht werden.

Big Data = Große Chancen

Für den Bioinformatiker Daniel Ziemek ist der Begriff „Big Data“ ein Schlagwort, das viel zu oft und leichtfertig benutzt wird: „Wenn zu viele Merkmale für zu wenige Patienten erhoben werden, kann eine vorschnelle Analyse auch leicht in die falsche Richtung weisen.“ Die UK Biobank sieht er als ein Projekt, in dem der Begriff passt: eine genaue klinische Charakterisierung der Freiwilligen geht einher mit einer selten dagewesenen Studiengröße: ein Datenparadies. Ziemek leitet beim Unternehmen Pfizer von Berlin aus ein internationales Forschungsteam und ist sich sicher, dass sich aus den Daten viele Einsichten gewinnen lassen, „die uns – und damit meine ich nicht nur Pfizer, sondern alle Forscher in den Lebenswissenschaften – tiefe Einblicke in die Entstehung von Krankheiten ermöglichen. Ich bin da optimistisch: Die Auswertung von molekularbiologisch und klinisch charakterisierten Patienten mit unterschiedlichen Diagnosen wird uns helfen, die zu Grunde liegenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Krankheiten viel besser zu verstehen. Was, wenn nicht das, sollte denn zu besseren Medikamenten führen?“

Auch in der Forschung bei AbbVie in Ludwigshafen mutiert computergetriebene Wissenschaft immer mehr zur Schlüsseltechnologie. Big Data steht dort für „die Flut an Daten, die uns inzwischen zur Verfügung steht. Unser klares Ziel ist es, die Daten zu nutzen und dadurch schneller bessere und gezieltere Therapien zu entwickeln“, sagt Lars Greiffenberg, Director R&D IT and Translational Informatics. „Von der frühen Forschung bis zur Zulassung beispielsweise eines Krebsmedikaments können durchaus 20 Jahre vergehen. Diese Zeitspanne wollen wir deutlich verkürzen und hier kann uns die systematische Analyse von Daten helfen. Wir wollen schon in der präklinischen Forschung im Datenmeer relevante Muster erkennen, um schneller Hypothesen abzuleiten, die wir dann gezielt überprüfen können.“ Was Bluthochdruck und Schuppenflechte miteinander zu tun haben? Jahrzehntelange medizinische Erfahrung etwa hat die Erkenntnis hervorgebracht, dass blutdrucksenkende Arzneimittel wie Betablocker Schuppenflechte auslösen können. Greiffenberg ist sich sicher: „Big Data hätte dies erheblich schneller zutage gefördert.“

Big Data? Smart Data!

Projekte wie die UK Biobank sind zwar „revolutionär“ (O-Ton Ziemek), aber sie werfen auch Herausforderungen auf. Weil sich die Teilnehmer freiwillig gemeldet haben, kann man davon ausgehen, dass sie gesundheitsbewusster leben. Und tatsächlich: Verglichen mit der Allgemeinbevölkerung sind Biobank-Registrierte generell gesünder, schlanker und rauchen weniger. In Zahlen: Die Inzidenz  für Krebs ist z.B. zwischen 10 bis 20 Prozent geringer. Das macht die Biobank nicht unbrauchbar – ganz im Gegenteil. Aber man muss es in den Auswertungen berücksichtigen. 

Daten zu bekommen ist das eine. Sie vernünftig und zielführend zu nutzen, das ist die große Herausforderung, wie Christian Müller, Teamleiter Non-Interventional Studies in der Medizin bei der Bayer Vital betont: „Wir brauchen nicht nur Big, sondern Smart Data. Daten, die mittels Algorithmen nach bestimmten Strukturen aus größeren Datenmengen extrahiert wurden und sinnvolle Informationen enthalten, bzw. zu validen Informationen weiterverarbeitet werden können – aus validierten Sensoren, aus vertrauenswürdigen Quellen und mit Hilfe zertifizierter Medizinprodukte.“ Müller ist sich sicher, „dass solche Daten innovative Arzneimittel sicherer machen und einige Therapien für Patienten erst ermöglichen werden.“

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