Ein Wirkstoff  der gegen die seltene Erkrankung aHUS eingesetzt wird  könnte vielleicht bald auch eine Rolle im Kampf gegen das Coronavirus spielen. Ein Interview mit Prof. Thorsten Feldkamp vom Uniklinikum Schleswig-Holstein. Foto: ©iStock.com/FamVeld
Ein Wirkstoff der gegen die seltene Erkrankung aHUS eingesetzt wird könnte vielleicht bald auch eine Rolle im Kampf gegen das Coronavirus spielen. Ein Interview mit Prof. Thorsten Feldkamp vom Uniklinikum Schleswig-Holstein. Foto: ©iStock.com/FamVeld

„Selbst Nierenschäden sind erstaunlich reversibel“

Seltene Erkrankungen sind oft schwierig zu behandeln, weil es an wirksamen Medikamenten fehlt – beim atypischen Hämolytisch-Urämischen Syndrom ist das anders. Wir haben mit Prof. Thorsten Feldkamp, Leitender Oberarzt am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel, darüber gesprochen, welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt – und weshalb sie auch eine Rolle in der Corona-Forschung spielen könnten.

Herr Prof. Feldkamp, im Jahr 1955 hat der Kinderarzt Conrad Gasser in der Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift erstmals das Hämolytisch-Urämische Syndrom (HUS) beschrieben. Was hat es damit auf sich?

Prof. Thorsten Feldkamp: Conrad Gasser hat fünf Kinder im Alter zwischen zwei Monaten und acht Jahren beschrieben, die dieses Syndrom hatten. Das Erstaunliche dabei: Es waren ganz unterschiedliche Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen. Bei allen fünf Kindern trat jedoch eine thrombotische Mikroangiopathie auf, also eine Veränderung der Blutgefäße. Die Zahl der Blutplättchen, die für die Gerinnung zuständig sind, nahm dramatisch ab. Außerdem beschrieb Gasser eine Veränderung der Blutsalze, was dazu führte, dass die Nieren keine Flüssigkeit mehr ausscheiden konnten und sich Wasser im Körper ansammelte. Am Ende starben alle fünf Kinder an Nierenversagen. Gasser hat dieses Syndrom erstmals beschrieben, aber es dauerte anschließend noch Jahrzehnte, bis es ein erstes Medikament gab, das zumindest bestimmten Patienten helfen konnte.

Neben dem HUS gibt es auch aHUS, das atypische Hämolytisch-Urämische Syndrom. Wodurch unterscheiden sich diese beiden Krankheitsvarianten?

Prof. Thorsten Feldkamp, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Foto: privat
Prof. Thorsten Feldkamp, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Foto: privat

Prof. Feldkamp: Zunächst einmal: Wir haben es beim HUS mit einem ganzen Spektrum von Erkrankungen zu tun. Der Krankheitsmechanismus, den wir inzwischen extrem gut behandeln können, ist das so genannte atypische HUS. Das typische HUS wird hauptsächlich durch bakterielle Infektionen verursacht, beispielsweise in Folge einer Lebensmittelvergiftung. In den 1990er Jahren hat man dann herausgefunden: Es gibt auch eine HUS-Variante, die genetisch bedingt ist – eben das atypische Hämolytisch-Urämische Syndrom, kurz aHUS. Die genetischen Veränderungen sind angeboren und führen zu Fehlfunktionen im Komplementsystem, das ein Teil des Immunsystems ist. Das Komplementsystem spielt eine wichtige Rolle bei der Abwehr von Bakterien und Viren. Beim aHUS reagiert es jedoch zu stark und diese Überreaktion führt zu Gefäßschädigungen, die vor allem in der Niere ein Riesenproblem darstellen, denn sie ist ja ein extrem gut durchblutetes Organ.

Wie häufig kommen diese beiden Erkrankungen vor?

Prof. Feldkamp: Am atypischen HUS erkranken pro Jahr etwa ein bis drei von einer Million Menschen. Es ist also eine sehr seltene Erkrankung. Das HUS kommt wesentlich häufiger vor, aber konkrete Angaben sind schwierig, weil das eine große Erkrankungsfamilie ist. Insgesamt gibt es sehr viele verschiedene Erkrankungen, die ein HUS verursachen können. Das atypische HUS ist eine dieser Erkrankungen.

Wenn diese Erkrankung so selten ist – wie groß ist dann die Chance, dass die Kinder- oder Hausärzte sie erkennen?

Prof. Feldkamp: Das ist, anders als bei anderen seltenen Erkrankungen, relativ einfach zu erkennen. Die Patienten sind richtig krank, die werden nicht lange auf einen diagnostischen Irrweg geschickt, sondern ziemlich schnell ins Krankenhaus eingewiesen. Dort wird ein aHUS schon anhand der Blutuntersuchungen in den nephrologischen Kliniken sehr schnell erkannt. Die eigentliche Klippe ist eine andere.

Welche?

Prof. Feldkamp: Das Wissen und das Verständnis darüber, welche Therapiemöglichkeiten es gibt.

Und – wie wird aHUS behandelt?

Prof. Feldkamp: Ich habe ja vorhin das Komplementsystem angesprochen. In den letzten Jahren gab es immer mehr neue Erkenntnisse zu seiner Funktion. Dieses Wissen hat zur Entwicklung des Komplementblockers Eculizumab geführt: Dieses Medikament blockiert bestimmte Teile des Komplementsystems, die beim aHUS Entzündungen und Zellschäden verursachen. Bei diesem Wirkstoff handelt es sich um einen künstlich hergestellten Antikörper, der als Infusion verabreicht wird.

Wie oft muss diese Infusion gegeben werden?

Prof. Feldkamp: Ein Leben lang, alle zwei Wochen. Am Anfang gibt man es wöchentlich. Entscheidend ist dabei, dass es früh genug gegeben wird. Man darf nicht abwarten bis alles in den Brunnen gefallen ist, sondern man muss es früh geben.

aHUS ist angeboren und die Behandlung erfolgt ein Leben lang. 
Foto: ©iStock.com/FamVeld
aHUS ist angeboren und die Behandlung erfolgt ein Leben lang.
Foto: ©iStock.com/FamVeld

Weil es ansonsten zu irreversiblen Nierenschäden kommen könnte?

Prof. Feldkamp: Nicht ganz. Selbst Nierenschäden sind unter diesem Medikament erstaunlich reversibel, aber trotzdem können Langzeitschäden auftreten. Es ist wie bei einem brennenden Haus: Das können Sie auch nach Stunden noch löschen, aber es ist dann schwieriger, es wieder aufzubauen, weil eben mehr zerstört ist. So ähnlich ist es auch mit der Behandlung von aHUS: Je früher sie einsetzt, desto weniger Schaden kann die Krankheit anrichten.

Können Patienten, die mit dieser Antikörper-Infusion behandelt werden, wieder ein ganz normales Leben führen?

Prof. Feldkamp: So ist es – allerdings kann uns das dann andere Probleme bereiten.

Und die wären?

Prof. Feldkamp: Nun, wenn derart schwer erkrankte Patienten sich rasch erholen, dann sind sie erst einmal glücklich. Aber wenn sie wieder ganz normal im Leben stehen, dann finden sie die Infusion irgendwann unbequem. Alle zwei Wochen zu uns in die Klinik zu kommen und eine Stunde an der Infusion zu hängen, das ist mühselig.

Was lässt sich dagegen tun?

Prof. Feldkamp: Das kommt ganz auf die Behandlung an. Es gibt jetzt ein neu zugelassenes Medikament mit dem Wirkstoff Ravulizumab. Das ist auch ein Antikörper, aber einer, der so verändert wurde, dass er nicht so schnell vom Körper abgebaut werden kann und so das Komplementsystem länger blockiert. Diese Infusion wird man nur noch alle acht Wochen geben müssen.

Wie beeinflusst die Coronapandemie die Situation von aHus-Patienten?

Prof. Feldkamp: Bisher gar nicht. Am Anfang haben wir uns Gedanken gemacht, ob die Patienten durch die Eculizumab-Gaben immunsupprimiert sind, ob also ihre Abwehrkräfte gegen das SARS-CoV-2 Virus unterdrückt sind. Aber das ist offensichtlich nicht der Fall. Es sieht eher so aus, dass Eculizumab möglicherweise sogar indirekt schützen könnte vor dem Corona-Virus. Aber das ist spekulativ. Zumal das nur die späte Krankheitsphase bei Menschen betrifft, die schwer erkrankt sind. Momentan werden Studien gemacht, die das überprüfen, aber was dabei herauskommt, lässt sich jetzt noch nicht sagen.

Hat diese mögliche Schutzwirkung damit zu tun, dass Eculizumab ein Antikörper ist, wie ihn auch Donald Trump bekommen hat?

aHUS-Medikament Eculizumab: Bei Corona ein möglicher Baustein bei der Behandlung. Foto: CC0 (Stencil)
aHUS-Medikament Eculizumab: Bei Corona ein möglicher Baustein bei der Behandlung. Foto: CC0 (Stencil)

Prof. Feldkamp: Nein, Trump hat einen speziellen Antikörper gegen das Coronavirus bekommen. Eculizumab wirkt nicht gegen das Corona-Virus direkt, sondern könnte die massiven Entzündungsreaktionen eindämmen, zu denen es bei Corona kommen kann – denn sie verlaufen ähnlich wie bei den Gefäßschädigungen, die für HUS-Erkrankungen typisch sind. Insofern wäre Eculizumab bei Corona auch nicht die allheilende Therapie, sondern nur ein möglicher Baustein bei der Behandlung. Aber wie gesagt: Das ist einstweilen noch spekulativ, anders als bei der Behandlung von aHUS – hier sind Eculizumab und Ravulizumab tatsächlich die aus meiner Sicht beste Behandlungs-Option.

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