Aufsichtsbehörden verlassen sich bei der Arzneimittelzulassung auf randomisierte kontrollierte Studien. Allerdings stößt das Studiendesign immer öfter an Grenzen. Foto: CC0 (Stencil)
Aufsichtsbehörden verlassen sich bei der Arzneimittelzulassung auf randomisierte kontrollierte Studien. Allerdings stößt das Studiendesign immer öfter an Grenzen. Foto: CC0 (Stencil)

Daten aus dem echten Leben: Bessere Arzneimittelentwicklung?

Menschen, die Medikamente einnehmen müssen, fragen sich: Wurde alles getan, um die Wirksamkeit und die Sicherheit neuer Therapien möglichst zweifelsfrei nachweisen zu können? Seit mehr als einem halben Jahrhundert verlassen sich die Aufsichtsbehörden auf der ganzen Welt bei der Zulassung neuer Arzneimittel auf randomisierte kontrollierte Studien (RCT). Sie sind der so genannte „Goldstandard“, um zu einer hohen Evidenz zu kommen; sprich: einem empirisch erbrachten Nachweis vom Nutzen einer therapeutischen Intervention. Allerdings stoßen solche Studiendesigns immer öfter an Grenzen. Real-World-Evidence spielt eine zunehmend größere Rolle – generiert aus Daten aus dem „echten Leben“.

„Goldstandard“: Das ist in der Medizin ein diagnostisches, therapeutisches oder allgemein wissenschaftliches Verfahren, das sich in einem konkreten Fall als die bewährteste, als die beste Lösung herausgestellt hat. In klinischen Studien, in denen es darum geht, möglichst viel über die Sicherheit und Wirksamkeit eines Wirk- oder Impfstoffkandidaten herauszufinden, gilt das Design einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT) als ein solches „Gold“:

RCT: "Gold" in klinischen Studien. ©istock.com/shironosov
RCT: “Gold” in klinischen Studien. ©istock.com/shironosov
  • „Kontrolliert“ bedeutet: Neben der Gruppe, die den Wirkstoff erhält, gibt es eine Gruppe, die ein Scheinmedikament (Placebo), eine aktuelle Standardtherapie oder gar keine Behandlung bekommt. Somit lassen sich die Effekte der Behandlung am besten vergleichen.
  • „Randomisiert“ bedeutet: Die Zuordnung zur Verum- oder Kontrollgruppe erfolgt zufällig, um möglichst gleiche Versuchsbedingungen zu schaffen. RCTs sind deshalb in der Regel doppelt verblindet – weder Versuchsleiter und -leiterinnen noch Patient bzw. Patientin wissen, was sie bekommen. Subjektives soll so gut wie möglich ausgeschlossen werden.

Zulassungsbehörden weltweit lieben RCTs. Sie bieten ein hohes Maß an Sicherheit und sie verlassen sich seit mehr als einem halben Jahrhundert darauf, wie das Beratungsunternehmen IQVIA schreibt: „Mehr und mehr wird ihnen aber bewusst, dass dieses Design an seine Grenzen stößt.“ Denn auch ein Goldstandard kann nicht alles.

Placebo-kontrollierte Studien bei seltenen Erkrankungen

Das ist die Folge des hohen Tempos, mit dem es heute gelingt, wissenschaftliche Erkenntnisse in Therapieoptionen zu übertragen. Das offensichtlichste Beispiel sind dabei die seltenen Erkrankungen. Bei Leiden, wie dem atypischen Hämolytisch-Urämischen Syndrom (aHUS), der Transthyretin-Amyloidose (ATTR) oder der Phenylketonurie (PKU) sind die Patientengruppen so klein, dass es eine große Herausforderung ist, überhaupt eine Studienpopulation zusammen zu bekommen. Auch ist es ethisch fragwürdig, bei Krankheiten, die potenziell lebensbedrohlich sind oder bei dem die Leiden der Betroffenen groß sind, Menschen mit einem Placebo zu behandeln, wenn es wissenschaftlich fundierte Hoffnung gibt, dass das Prüfpräparat hilft.

Aber es sind nicht nur die „Seltenen“, bei denen RCTs ein Hindernis für den Erkenntnisgewinn sein können. Teilweise werden die Patientengruppen selbst in „großen“ Indikationen sehr klein; etwa, weil sich z.B. in der Onkologie Krebsarten in ihre genetische Vielfalt zerlegen lassen (Beispiel Lungenkrebs: Pharma Fakten berichtete). Hinzu kommt: Je kleiner die Placebogruppen, desto größer ist das Risiko von statistischen Verzerrungen.

RWE findet sich in elektronischen Patientenakten & digitalen Anwendungen jeglicher Art. 
Foto: ©iStock.com/ipopba
RWE findet sich in elektronischen Patientenakten & digitalen Anwendungen jeglicher Art.
Foto: ©iStock.com/ipopba

Real-World-Evidence: Schlüssel zur Modernisierung der Arzneimittelentwicklung?

Die Frage, die Zulassungsbehörden deshalb schon länger beschäftigt, ist: Inwieweit bilden RCTs im Einzelfall noch die reale Welt der Arzneimittelversorgung ab und inwieweit kann Real-World-Evidence (RWE) die Forschung unterstützen und die Modernisierung der Wirkstoffentwicklung vorantreiben? Denn Daten aus dem echten Leben sind massenhaft vorhanden: Sie finden sich in elektronischen Patientenakten, digitalen Anwendungen jeglicher Art, in Beobachtungsstudien oder Verordnungsdaten der Krankenkassen.

Das Beratungsunternehmen IQVIA wollte deshalb wissen, welchen Stellenwert RWE bei der US-Zulassungsbehörde FDA und ihrem europäischen Counterpart EMA hat und ob es gelingt, die Zulassungen zu beschleunigen. Dazu haben sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Zulassungen zwischen 2014 und 2019 angeschaut. Die Kernaussagen des Whitepapers:

  • Die FDA ist bei der Bewertung von RWE deutlich forscher – insgesamt 30 FDA-Zulassungen auf Basis von RWE hat IQVIA identifiziert (EMA: 16).
  • Insgesamt nimmt die Zahl der Zulassungen, bei denen RWE eine Rolle spielt, langsam, aber stetig zu.
  • Die Zulassungen von neuen Medikamenten, bei denen RWE eine Rolle spielte, betreffen sowohl bei FDA als auch bei der EMA ausschließlich Orphan Drugs; also Medikamente gegen seltene Erkrankungen.
  • Beide Behörden beziehen aber bei Zulassungserweiterungen von bereits zugelassenen Arzneien RWE mit ein.
  • Bei Zulassungen, bei denen RWE eine Rolle spielte, verkürzte sich die Zulassungszeit.

Die Analyse zeige, so IQVIA, dass RWE in der regulatorischen Praxis eine zunehmende Rolle spielt. „Und ihre Relevanz wird aus mehreren Gründen noch ansteigen. Hersteller sind immer stärker unter Druck, um Zulassungszeiten zu verkürzen. Gleichzeitig arbeiten regulatorische Behörden an Standards, um Anforderungen an RWE-Daten zu definieren und um deren Einsatz zu erleichtern. Und nicht zuletzt vereinfachen Technologien aus dem Bereich Health IT die Erfassung und Auswertung von RWE.“

Die Rolle von RWE bei Zulassungen nimmt zu.
Foto: ©iStock.com/fizkes
Die Rolle von RWE bei Zulassungen nimmt zu.
Foto: ©iStock.com/fizkes

Einen anderen Weg gibt es auch nicht – da sind sich die Leiter und Leiterinnen einiger europäischer Arzneimittelagenturen sicher. Schon 2018 schrieben sie in einem Artikel für Clinical Pharmacology and Therapeutics: „Das Fortschreiben des Forschungsmodells des 20. Jahrhunderts, das (fast ausschließlich) auf RCTs beruht, wird es uns nicht erlauben, das aktuelle Tempo des Fortschritts in den Life Sciences in neue und bessere Therapien für Patienten zu übersetzen.“ Aus ihrer Sicht kann das nur ein lernendes Gesundheitssystem leisten, das auch mit Daten aus der Versorgungsforschung arbeitet.

Und so richtig neu ist das Ganze auch nicht: Bei der Bewertung von langfristigen Sicherheitsdaten greifen Zulassungs- und Überwachungsbehörden schon lange und intensiv auf Versorgungsdaten aus dem klinischen Alltag zurück.

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