Auch Wirtschaftswissenschaftler:innen entwickeln Ideen zur Pandemiebekämpfung – so zum Beispiel Prof. Dr. Thomas Apolte  Universität Münster. Ein Interview. Foto: ©iStock.com/Maksim Tkachenko
Auch Wirtschaftswissenschaftler:innen entwickeln Ideen zur Pandemiebekämpfung – so zum Beispiel Prof. Dr. Thomas Apolte Universität Münster. Ein Interview. Foto: ©iStock.com/Maksim Tkachenko

Corona-Pandemie: „Es ist noch immer nicht zu spät“

Die Corona-Pandemie hat uns geradewegs in die so genannte „Rationalitätenfalle“ geführt – sagt der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Thomas Apolte. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie wir dieser Falle wieder entkommen, was passieren muss, um die Pandemie doch noch in den Griff zu bekommen – und welche Parallelen es zwischen Corona- und Klimakrise gibt.

Herr Prof. Apolte, Sie schreiben in einem Beitrag zur „Pandemiebekämpfung im Westen“, die Menschen müssten ihr persönliches Infektionsrisiko höher einschätzen als es tatsächlich ist, damit sich das Coronavirus nicht exponentiell verbreitet. Wie kommen Sie zu dieser Annahme?

Prof. Dr. Thomas Apolte: Im Frühjahr 2020 haben die Menschen ihr persönliches Risiko zunächst überschätzt. Bedenken wir: Es war über das Jahr gerechnet mit knapp vier Prozent nicht allzu wahrscheinlich, sich mit dem Virus anzustecken. Und falls doch, betrug die Wahrscheinlichkeit, zu Tode zu kommen, ungefähr ein Prozent. Kombiniert lag das Sterberisiko für einen einzelnen Menschen bei 0,4 Promille und damit nicht besonders hoch – dieses Risiko haben die Menschen zunächst stark überschätzt.

Hätten wir es damals also lockerer angehen können – ohne Maske, ohne Abstand, ohne Lockdown?

Prof. Dr. Thomas Apolte. Foto: privat
Prof. Dr. Thomas Apolte. Foto: privat

Apolte: Auf keinen Fall. Denn es gibt noch eine andere Seite: Man löst durch unvorsichtiges Verhalten einen weiteren Schaden aus – allerdings nicht bei sich selbst, sondern durch Ansteckung bei anderen Menschen. Während das Risiko, durch unvorsichtiges Verhalten selbst zu Schaden zu kommen, eher gering ist, beträgt der Schaden bei anderen ein Vielfaches.

Das müssen Sie genauer erklären.

Apolte: Man kann das so verdeutlichen: Wenn ich unvorsichtig bin, bleibt das Infektionsrisiko immer noch überschaubar, und selbst wenn ich mich infiziere, komme ich mit großer Wahrscheinlichkeit mit einem blauen Auge davon. Ich werde aber im Mittel mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mindestens einen anderen anstecken. Jede sorglose Person steckt im Durchschnitt vielleicht zwei oder drei weitere Personen an. Die werden dann wieder ein bis zwei Personen anstecken und so weiter. Das löst eine Kettenreaktion aus, die am Ende aus womöglich hunderttausend oder mehr weiteren Infektionen besteht – und darunter werden fast mit Sicherheit Todesfälle sein. Das nennen wir Wirtschaftswissenschaftler einen externen Effekt – der Schaden, den eine einzelne Person insgesamt anrichtet, ist größer als der selbst zu tragende Schaden. Der externe Schaden wird gerade bei Corona von den Einzelnen offenbar massiv unterschätzt.

Warum wurden die Menschen im Laufe der Zeit wieder leichtsinniger?

Apolte: Weil ihnen klar wurde, dass das individuelle Risiko nicht sehr hoch ist. Hinzu kommt der externe Effekt: Wer vorsichtig ist und zum Beispiel immer korrekt seine Maske trägt, schützt in erster Linie andere. Die Motivation zum Schutz anderer ist immer schwächer als die Motivation zum eigenen Schutz – so sind wir Menschen eben. Das bezeichnet man als Rationalitätenfalle: Rationales Handeln von Individuen führt nicht immer zu rationalen Ergebnissen für die Gemeinschaft. Je nach Alter, Gesundheitsstand und Risikoneigung muss es individuell nicht irrational sein, sich unvorsichtig zu verhalten. Die kollektive Perspektive ist aber eine andere.

Ist das auch bei anderen Schutzmaßnahmen so, etwa bei Selbsttests oder Warn-App?   

Apolte: Ich erinnere mich an Werbeanzeigen für die App, in denen stand: „Schützen Sie sich selbst.“ Die Wahrheit ist: Ich kann mich persönlich mit der App überhaupt nicht schützen, ebenso wenig mit einem Schnelltest – denn, wenn ich dank App oder Test feststelle, dass ich infiziert bin, dann ist das für mich selbst nicht mehr hilfreich. Aber: Ich kann mich in Quarantäne begeben und dafür sorgen, niemanden anzustecken. App und Selbsttests schützen daher allein mein Umfeld. Damit ist es eine Frage der Moral, ob ich sie nutze oder nicht – und die Moral erodiert mit der Zeit. Verstärkt wird das dadurch, dass die Leute mit der Zeit pandemiemüde werden. 

Hilft es da, an die Verantwortung der Einzelnen zu appellieren?

Pandemie: Selbstschutz ist Gemeinschaftsschutz. ©iStock.com/deberarr
Pandemie: Selbstschutz ist Gemeinschaftsschutz. ©iStock.com/deberarr

Apolte: Es spricht nichts dagegen, aber es reicht nicht. Wer sich persönlich wenig bedroht fühlt, tendiert zur Suche nach Argumenten, um mangelnde Umsicht zu rechtfertigen. Mit der Einsicht in die relativ geringe individuelle Bedrohung greift das schnell um sich. Bereits im Juli konnte man die Folgen beobachten. Die Politik hätte damals bereits zu spürbaren Kontaktbeschränkungen zurückkehren und zugleich eine nachhaltige Strategie entwickeln müssen. Es gab bereits Schnelltests. Man hätte also eine Teststrategie mit einer weiterentwickelten App als integralem Bestandteil vorbereiten können. Stattdessen hat man die heraufziehende Gefahr grob unterschätzt und gegen alle Warnungen der Wissenschaft auf einen milden Verlauf im Winter gesetzt.

Hinzu kam, dass alle die Beschlüsse der Ministerpräsidenten-Konferenzen so gedeutet haben, wie sie wollten.

Apolte: So, wie die einzelnen Menschen die von ihnen ausgehende Gefahr für andere zu gering gewichten, so gewichtet jeder Ministerpräsident die von seinem Bundesland ausgehende Gefahr für andere Bundesländer auch nicht genügend. Das ist aus deren Sicht wiederum durchaus vernünftig. In der Folge gewichten sie das gesamte Infektionsgeschehen aber systematisch zu wenig, genau so, wie es die Rationalitätenfalle voraussagt. Zuletzt verteidigten die Ministerpräsidenten selbst im Angesicht der herannahenden Katastrophe fast nur noch ihre landesspezifischen Interessen gegen die von der Bundeskanzlerin gewünschten umfassenden Maßnahmen. 

Ihrer Überzeugung nach haben die westlichen Länder bei der Pandemie-Bekämpfung noch viel Potenzial nach oben. Könnten Sie das mit Beispielen erläutern?

Apolte: Ich will nicht nachkarten. Aber es wäre besser gewesen, von Anfang an konsequent auf eine effektive digitale Kontaktverfolgung zu setzen. Hier können wir von den asiatischen Demokratien viel lernen. Die unumgänglichen datenschutzrechtlichen Eingriffe wären dabei eher milde, zumindest verglichen mit den jetzigen Einschränkungen. Es ist aber noch immer nicht zu spät. Es gibt inzwischen die Luca-App, die bezeichnenderweise aus der Privatwirtschaft kommt – die müssen wir und die Gesundheitsämter konsequent nutzen. Außerdem hätte man bei den Test-Technologien früher und offensiver vorgehen sollen, vor allem für die Schulen. Das gilt auch für die jetzt erst einsetzenden Bemühungen, den Zugang zu bestimmten Orten von einem negativen Testergebnis abhängig zu machen. Aber machen wir uns nichts vor: Angesichts der aktuellen Entwicklung werden wir an einem weiteren harten Lockdown nicht vorbeikommen. Dann aber brauchen wir eine Überbrückung, bis wir mit den Impfungen so weit sind wie zum Beispiel Israel. Die kann nicht aus sechs weiteren Monaten Lockdown bestehen.

Was muss jetzt passieren, um die Pandemie doch noch in den Griff zu bekommen?

Testen: Die kurzfristige Chance im Kampf gegen das Coronavirus. 
Foto: ©iStock.com/Pascal Skwara
Testen: Die kurzfristige Chance im Kampf gegen das Coronavirus.
Foto: ©iStock.com/Pascal Skwara

Apolte: Die kurzfristige Chance besteht vor allem im Testen. Stellen Sie sich vor, wir würden uns alle jeden Morgen so selbstverständlich testen, wie wir uns die Zähne putzen. Dann würde allein dadurch das Virus aussterben – ohne Impfung und ohne jede weitere Maßnahme. Hierzu reichte eine Testgenauigkeit von 80 Prozent, wie sie die meisten Selbsttests haben. 

Das klingt schön, aber nicht allzu realistisch.

Apolte: Mag sein, aber wir könnten und sollten in den Schulen so bald wie möglich täglich testen und dann dazu übergehen, Restaurants, Kinos und andere Orte für Leute zu öffnen, die einen frischen Test haben. Mit einem frischen Test ist es sehr unwahrscheinlich, andere anzustecken, selbst wenn man schon infiziert ist.

Wie viele Selbsttests haben Sie schon gemacht? 

Apolte: Um ehrlich zu sein, ich habe gestern meinen ersten Selbsttest gemacht. Den habe ich mir vor ein paar Tagen in einer Apotheke besorgt. 

Bei Aldi war er nach wenigen Minuten ausverkauft. Die Teststrategie mag zwar gut sein, aber es muss die Tests auch geben, und zwar in großer Menge. 

Apolte: Sicher, aber das läuft gerade an. Wie gesagt kann das kein Ersatz für beherzte Maßnahmen sein, wie wir sie in der aktuellen und überaus gefährlichen Lage jetzt dringend brauchen. Die Zwischenzeit sollten wir aber zum Aufbau einer flächendeckenden Infrastruktur für den Test-Nachweis und für die Versorgung der Schulen und KITAS mit Tests nutzen. Wenn wir hier die richtige Reihenfolge beachten, dann könnten wir mit Hilfe frischer Tests wirklich bald wieder ins Restaurant oder ins Fitnessstudio zu gehen – ohne uns und andere zu gefährden. Als wichtigen Nebeneffekt sendet dies einen sehr großen Anreiz aus, sich häufig testen zu lassen. Dann testen wir uns nicht, um andere zu schützen, sondern um Zugang zu erhalten. Die Testproduktion passt sich dann von allein an, getrieben von Erwerbsstreben. Der Antrieb über den Eigennutz mag weniger moralisch klingen, ist aber umso effektiver. 

Wie das Coronavirus führt auch der Klimawandel letztlich zu einer Gesundheitskrise. Sehen Sie Parallelen zwischen Corona- und Klimakrise?

Pandemie & Klimakrise: Es gibt Parallelen. Foto: ©iStock.com/12521104
Pandemie & Klimakrise: Es gibt Parallelen. Foto: ©iStock.com/12521104

Apolte: Ja, es gibt Parallelen, aber es gibt auch bedeutende Unterschiede. Die Parallele liegt darin, dass es den einzelnen Menschen nichts hilft, das Problem zu erkennen. Denn als Einzelner werde ich auch mit vorbildlichem Verhalten das Klima nicht retten können. Daher brauchen wir genauso wie in der Coronakrise eine staatliche Koordination dieses Handelns – etwa durch eine CO2-Besteuerung. Der Unterschied ist, dass eine solche Koordination beim Klima weltweit erfolgen muss, wir aber keine Weltregierung haben. Bei rund 200 Staaten weltweit macht das die Bekämpfung der Klimakatastrophe ungleich komplizierter. Denken wir nur an das Desaster der Ministerpräsidentenkonferenzen. Insofern bin ich bei Corona durchaus optimistisch, dass wir die Probleme noch in diesem Jahr in den Griff bekommen – beim Klimawandel bin ich das leider nicht.

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