Auf dem Tagesspiegel Fachforum Gesundheit diskutierten Expert:innen  über Fort- und Rückschritte bei der Eindämmung der HIV-Pandemie. Fotos: ©iStock.com / Artem_Egorov (links) und ©iStock.com/wildpixel (rechts)
Auf dem Tagesspiegel Fachforum Gesundheit diskutierten Expert:innen über Fort- und Rückschritte bei der Eindämmung der HIV-Pandemie. Fotos: ©iStock.com / Artem_Egorov (links) und ©iStock.com/wildpixel (rechts)

Konkurrenz der Pandemien: Erfolgreicher Kampf gegen HIV trotz SARS-CoV-2?

Bis 2030 will die Weltgemeinschaft die HIV/AIDS-Pandemie eigentlich beenden. Doch auf dem Weg zu diesem Ziel hat das Coronavirus einiges durcheinandergebracht. Auf dem Tagesspiegel Fachforum Gesundheit diskutierten mehrere Expert:innen darüber, ob und wie HIV/AIDS trotzdem noch effektiv eingedämmt werden kann.
Prof. Dr. Hendrik Streeck. Foto: ©Frank Burkhardt, Institut für HIV-Forschung
Prof. Dr. Hendrik Streeck. Foto: ©Frank Burkhardt, Institut für HIV-Forschung

„Wir reden über zwei unterschiedliche Pandemien, […] die derzeit gleichzeitig stattfinden – die HIV- und die Corona-Pandemie“, so Prof. Dr. Hendrik Streeck, Direktor des Institutes für Virologie an der medizinischen Fakultät der Universität Bonn. Ein Blick auf die Zahlen: Über 185 Millionen Corona-Infizierte wurden bis heute weltweit gezählt. Bei HIV sind es, so Streeck, insgesamt 77 Millionen Fälle seit dem Auftreten der ersten Erkrankungen. Während es allerdings „bei Corona über 170 Millionen Genesene gibt“, sieht das bei HIV anders aus: Der Erreger verbleibt lebenslang im Körper. Durch COVID-19 sind bislang rund vier Millionen Menschen gestorben, bei HIV/AIDS sind es 35 Millionen.

Corona-Lockdown: Rückschritte bei HIV/AIDS?

Auf der Tagesspiegel-Veranstaltung erläuterte Streeck, inwiefern sich COVID-19 auf HIV/AIDS ausgewirkt hat. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) habe im vergangenen Jahr vorgerechnet, dass eine sechsmonatige Unterbrechung von antiretroviralen Therapien im südlichen Afrika den Kampf gegen AIDS-bezogene Todesfälle um ein Jahrzehnt zurückwerfen könnte.

„Wir wissen, dass die meisten Länder der Welt in irgendeiner Form einen nationalen Corona-Lockdown gemacht haben“, erläuterte Streeck. „Das bedeutet aber, dass Transportwege, Zugänge zu Medikamenten, zum Krankenhaus, zum Gesundheitssystem in einigen Ländern nicht mehr so gut funktioniert haben wie vor der Pandemie.“ So sei etwa in Uganda, Südafrika, Sierra Leone und Lesotho die Zahl der Tests auf das HI-Virus „deutlich“ zurückgegangen. Auch habe sich der Zugang zu Therapien für HIV-positive Kinder und Jugendliche sowie für Schwangere in vielen Ländern verschlechtert.

HIV/AIDS beenden: 95-95-95-0

Um HIV/AIDS weltweit zu beenden, gibt UNAIDS – ein Programm der Vereinten Nationen – ein 95-95-95-0-Ziel vor. Demnach sollen 95 Prozent der Infizierten eine Diagnose haben; 95 Prozent der Diagnostizierten eine Therapie erhalten und 95 Prozent der Menschen in Behandlung eine Viruslast unter der Nachweisgrenze erreichen. Die „0“ steht für Null Diskriminierung. Laut Streeck wisse man noch nicht genau, inwieweit sich die COVID-19-Pandemie auf das Erreichen dieser Ziele ausgewirkt habe. In Folge der von ihm beschriebenen Einschnitte in die Versorgung rechnet er aber mit einem „Anstieg von Infektionen und unbehandelten Menschen“.

Gegen die HIV-Pandemie: 95-95-95-0-Ziel. Foto: ©iStock.com / Artem_Egorov
Gegen die HIV-Pandemie: 95-95-95-0-Ziel. Foto: ©iStock.com / Artem_Egorov

Sein Fazit: „Die, die bereits marginalisiert sind und unter Ungleichheit weltweit leiden, haben [durch die Coronakrise, Anm. d. Red.] ein deutliches Risiko weiter marginalisiert zu werden“. COVID-19 habe aber gezeigt: „Wenn es den politischen Willen gibt, eine Pandemie besser zu bekämpfen, dann gibt es auch die Möglichkeiten. Wir haben jetzt schon die Werkzeuge AIDS […] weltweit zu beenden; und wir haben die Möglichkeit HIV so einzudämmen, dass es keine Übertragung gibt.“ Schließlich könne ein „HIV-Positiver, wenn er gut behandelt ist, das Virus nicht mehr weitergeben“.

HIV/AIDS eindämmen per Fünf-Punkte-Plan

Prof. Dr. Bertram Häussler, Vorsitzender der Geschäftsführung beim IGES Institut, stellte auf der Veranstaltung eine Studie vor: Die zuständigen Wissenschaftler:innen untersuchten, inwiefern die „BIS 2030“-Strategie der Bundesregierung zur Eindämmung von HIV, Hepatitis B und C und anderen sexuell übertragbaren Infektionen umsetzbar ist. Insgesamt seien dafür fünf Punkte wichtig:

  • Niedrigschwellige Screening-Möglichkeiten erweitern: „Viel mehr Testen“, so lautet das Motto.
  • Prävention ausweiten – unter anderem durch die HIV-PrEP (Präexpositionsprophylaxe);
  • Drogengebrauch sicherer machen – um z.B. Infektionen durch unsaubere Spritzen zu vermeiden;
  • Elimination von Infektionen in Haftanstalten: Das Gefängnis, so Häussler, „ist nicht ausgeschöpft als Ort der Aufklärung und Behandlung“.
  • Datenlage verbessern: Man müsse „sehr viel mehr“ über „die Infektionen und ihre Verbreitung und Modellierung“ wissen, um „Jahr für Jahr“ sehen zu können, „ob wir uns dem Ziel BIS 2030 annähern oder nicht.“

Laut der Studie ist es im Rahmen der Strategie machbar, bis 2030 die Zahl der HIV-Neuinfektionen bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), zu halbieren und somit den Anstieg bei der Zahl der Erkrankten zu verlangsamen.

HIV/AIDS: Niemanden zurücklassen

In einer Diskussionsrunde kritisierte Bundestagsabgeordnete Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen, dass Deutschland „keine wirklich gute flächendeckende Gesundheitskommunikation habe“. Darin sieht sie einen Grund, warum noch zu wenige HIV-Positive eine Diagnose haben. Laut Robert Koch-Institut sind es lediglich 88 Prozent – anstatt der angestrebten 95 Prozent. Christian Thams vom forschenden biopharmazeutischen Unternehmen Gilead Sciences stimmte zu: „Bei der Gesundheitskommunikation müssen wir definitiv nachlegen“ – sowohl in der Breite als auch zielgruppenspezifisch. Dabei gehe es vor allem um den „Abbau der Stigmatisierung“. „Menschen dürfen keine Angst haben, wenn sie zum Testen gehen oder Präventionsmaßnahmen wahrnehmen.“

Christian Thams, Gilead Sciences. Foto: ©Gilead Sciences
Christian Thams, Gilead Sciences. Foto: ©Gilead Sciences

Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe, sieht das ähnlich. Er betonte zudem den Anspruch „niemanden zurückzulassen“. „Wir dürfen das nicht zu technisch werden lassen. Es geht nicht nur darum, Menschen zu testen […] und Infektionsketten zu unterbrechen. Sondern es geht darum, den Menschen, die noch nicht ausreichend Unterstützung bekommen, […] das zu geben, was sie brauchen.“ Er verwies auf Häftlinge, die – trotz erhöhtem HIV-Risiko – „kaum Schutzmöglichkeiten“ haben. „Wir haben Menschen ohne Papiere, die sterbend in Unikliniken landen, weil sie keinen Zugang zu einer Gesundheitsversorgung in Deutschland haben.“ Die drohende zunehmende Repression von Sexarbeit sei „Gift für HIV-Prävention“. Eigentlich könnten „wir“ HIV/AIDS „viel besser im Griff haben“, sagte er. „Trotzdem haben wir noch tausend Menschen im Jahr, die an AIDS oder einem schweren Immundefekt erkranken – komplett vermeidbar.“

Es ist also noch viel zu tun im Kampf gegen HIV/AIDS. Und auch die Pharmabranche forscht intensiv weiter auf diesem Gebiet – unter anderem an einer Heilung. „Wir als Unternehmen, als Industrie arbeiten daran“, zeigte sich Thams zum Abschluss der Veranstaltung optimistisch.

Das Tagesspiegel Fachforum Gesundheit mit dem Titel „Post-Corona: Paradigmenwechsel in der HIV-Politik?“ fand am 13. Juli mit freundlicher Unterstützung der Gilead Sciences GmbH statt.

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