Ein Papier der Robert-Bosch-Stiftung fordert für das deutsche Gesundheitswesen einen „Neustart“. Nur so könne es zukunftsfähig sein. Foto: ©iStock.com/ipopba
Ein Papier der Robert-Bosch-Stiftung fordert für das deutsche Gesundheitswesen einen „Neustart“. Nur so könne es zukunftsfähig sein. Foto: ©iStock.com/ipopba

Reformdebatte: Das Gesundheitssystem als Gesundheits-System

Wer auch immer nach der Bundestagswahl das Gesundheitsministerium leiten wird: Geht es nach einem Papier der Robert-Bosch-Stiftung hat ihre künftige Chefin, ihr Chef viel zu tun: Denn gefordert ist nicht weniger als ein „Neustart“, ein „Paradigmenwechsel“, eine „dritte Revolution“. Aus dem Gesundheitssystem müsse endlich ein Gesundheits-System werden.

Klingt irgendwie paradox: Das deutsche Gesundheitssystem gilt im internationalen Vergleich als sehr leistungsfähig. Und die Bürger:innen sind zufrieden: „75 Prozent der Menschen in Deutschland geben der Versorgung hierzulande gute Noten“, so das Ergebnis einer Umfrage des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH) im Februar des Jahres. Warum also einen Neustart fordern?

Trotzdem ist das die zentrale Botschaft von „Neustart! Zukunftsagenda – für Gesundheit, Partizipation und Gemeinwohl“, herausgegeben von der Robert-Bosch-Stiftung. Für ein zukunftsfähiges deutsches Gesundheitswesen wird ein Reförmchen nicht ausreichen: Die Autor:innen fordern eine neue Weichenstellung, eine neue Denke. Das Papier ist das Ergebnis eines im Jahr 2018 angestoßenen Prozesses; einer Reformwerkstatt, die in Dialogveranstaltungen mit rund 700 Bürger:innen begonnen hat, in die eine Forsa-Umfrage eingeflossen ist und die Fachleute eingebunden hat. Die Ergebnisse hat die Stiftung im Juni 2021 veröffentlicht. Es sind nach eigener Einschätzung „Botschaften aus der Mitte Deutschlands an die Politik.“

In Deutschland: Gesundheits- oder eher Krankheitssystem? Foto: CC0 (Stencil)
In Deutschland: Gesundheits- oder eher Krankheitssystem? Foto: CC0 (Stencil)

Gesundheitssystem: Gut im Reparieren

Und die sind deutlich: Das System gilt als leistungsfähig, wenn es darum geht Menschen, die erkrankt sind, zu behandeln, „aber es erfüllt seine Aufgabe nicht, sie durch Information, Gesundheitsförderung und Prävention vor Krankheiten zu schützen. Es klingt paradox, aber im Mittelpunkt unseres Gesundheitssystems steht nicht die Gesunderhaltung der Menschen.“ Kritische Stimmen sprächen deshalb auch von einem „Krankheitssystem“ – eben, „weil es so sehr auf den Kampf gegen Krankheiten fixiert ist und so wenig Ressourcen für die Erhaltung und Förderung von Gesundheit bereitstellt.“

Das hat Folgen. Denn es bedeutet, dass zu viele Menschen in Deutschland erkranken, denen das erspart bleiben könnte. Doch gerade in einer rapide alternden Gesellschaft, in der immer weniger Junge immer mehr Ältere unterstützen, müsste die Regel gelten: Jeder Krankheitsfall, der nicht sein müsste, ist einer zu viel. Die knappe Ressource Gesundheitsdienstleistung muss viel intelligenter gemanagt werden, soll das System unter dem Druck der Demografie nicht kollabieren – bzw. auf dem jetzigen Niveau bezahlbar bleiben.

Fazit der Robert-Bosch-Stiftung: Deutschland muss den Wechsel zu einem echten Gesundheitssystem vollziehen. Das bedeutet unter anderem mehr Prävention und mehr Selbstverantwortung der Menschen.

Das ist die erste von sieben Thesen, die sich aus dem Dialogprozess herauskristallisiert haben. Darüber hinaus formuliert das Papier weitere Punkte:

Deutschland: Wechsel zu einem echten Gesundheitssystem. ©iStock.com/ipopba
Deutschland: Wechsel zu einem echten Gesundheitssystem. ©iStock.com/ipopba
  • Solidarität: Laut den Autor:innen gibt es einen ausgeprägten Wunsch der Bürger:innen nach einem solidarischen, am Gemeinwohl orientierten Gesundheitssystem. „Dazu gehört auch die ernsthafte Debatte über die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung für alle.“
  • Partizipation und Mitbestimmung: Die Beteiligung von Bürger:innen und Patient:innen muss auf allen Ebenen gestärkt werden.
  • Kompetenz: „Investitionen in die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung, in höchste Qualifizierungsstandards der Gesundheitsberufe und in das Erlernen von Zusammenarbeit versprechen große Gewinne für die Gesundheit.“

Im Gesundheitswesen der Zukunft soll der Mensch im Mittelpunkt stehen. „Dass eine Selbstverständlichkeit derart betont wird, kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass das Gesundheitssystem diese Erwartung oft eben nicht erfüllt und anderen Interessen dient“, heißt es in dem Papier.

Gesundheitssystem: Immun gegen neue Impulse

Die Studienautor:innen fordern eine Politik der langen Linien. Und lesen dem jetzigen System und dessen Reformfähigkeit gehörig die Leviten. „Gesundheitspolitik schafft heute weniger Lösungen als dass sie durch ihr technokratisch-kleinschrittiges Handeln Teil des Problems geworden ist: Das Gesundheitssystem scheint geradezu immun zu sein gegen neue Impulse für seine Weiterentwicklung.

Nein, technokratisches Klein-Klein wird den Anforderungen nicht gerecht werden, so die Robert-Bosch-Stiftung. Es brauche einen großen Wurf: „Ausgehend von dem Ziel, jedem Einzelnen und allen zusammen ein möglichst gesundes Leben zu ermöglichen, müssen Bestehendes und Bewährtes erneuert und verbessert werden, müssen über Partikularinteressen hinweg neue Lösungen entwickelt und Wege gefunden werden, die eine wirksame und nachhaltige Umsetzung versprechen. Dabei muss es darum gehen, den Blick umfassend auf Gesundheit auszurichten und die Rollen von Patientinnen und Patienten ebenso neu zu verorten wie die der Gesundheitsberufe. All das erfordert die Bereitschaft, Zuständigkeiten, Planungen, Umsetzung und Finanzierung sowie die Steuerung des Systems neu zu gestalten“. Das klingt nach viel Arbeit für die Gesundheitsministerin, den Gesundheitsminister in spe.

Gesundheitssystem der Zukunft: Offen für Innovationen

Innovationsstau bei der Digitalisierung: Deutschland hat Nachholbedarf. Foto: ©iStock.com/Olivier Le Moal
Innovationsstau bei der Digitalisierung: Deutschland hat Nachholbedarf. Foto: ©iStock.com/Olivier Le Moal

Um mit dem Fortschritt aus Technik und Medizin Schritt zu halten, braucht es eine funktionierende Lernkultur, deren Voraussetzung die Offenheit für Innovationen ist, heißt es in „Neustart!“. Dass Deutschland hier Nachholbedarf hat – dafür dürfte der Innovationsstau bei der Digitalisierung Beleg genug sein. Um die öffentliche Gesundheit zu stärken und wissenschaftlich zu begleiten, fordern die Autor:innen den Aufbau eines „Nationalen Zentrums für öffentliche Gesundheit“ – als eine Art Dachorganisation für die kommunalen Gesundheitsämter, die auch für die Abstimmung nationaler Präventionsziele und die Erarbeitung einer nationalen „Public-Health“-Strategie verantwortlich sein könnte.

Robert-Bosch-Stiftung fordert einen „beherzten Richtungswechsel“

Mit der Zukunftsagenda Gesundheit will die Robert-Bosch-Stiftung wachrütteln. Sie fordert schlicht mehr „Mut für eine gesunde Zukunft.“ Denn: „Zum ersten Mal erleben wir, wie in modernen, hochdifferenzierten Gesellschaften bisherige Lösungen an Grenzen stoßen: Das, was in vielen Jahren und Jahrzehnten […] aufgebaut wurde, liefert heute nur dürftige Antworten auf Pandemien und Katastrophen, auf eine völlig veränderte Kommunikation rund um den Globus oder auf die Endlichkeit der Ressourcen.“ Raus aus „Komfortzone“ und „Weiterentwicklungsstau“ – mehr Flexibilität „eines offenbar selbstzufriedenen Systems“ ist angesagt. Das Gesundheitssystem ist eine große Baustelle; die Robert-Bosch-Stiftung fordert deshalb einen „beherzten Richtungswechsel.“

Verwandte Nachrichten

Anmeldung: Abo des Pharma Fakten-Newsletters

Ich möchte per E-Mail News von Pharma Fakten erhalten: