So wird medizinischer Fortschritt greifbar: Pfizer hat eine Website konzipiert  über die Leser:innen „scrollen“ können  um zu erfahren  was sich seit 1900 getan hat. Foto: ©iStock.com/Panuwat Sikham
So wird medizinischer Fortschritt greifbar: Pfizer hat eine Website konzipiert über die Leser:innen „scrollen“ können um zu erfahren was sich seit 1900 getan hat. Foto: ©iStock.com/Panuwat Sikham

Orphan Drugs im Kontext: Die Kostendebatte ist ein Blindflug

Die Kosten von Arzneimitteln gegen seltene Leiden sind ein gesundheitspolitischer Dauerbrenner. Kritisiert werden die steigenden Preise solcher Pharmazeutika. Mehrere Untersuchungen aus den USA deuten darauf hin, dass der Anteil der Arzneimittelkosten an der ökonomischen Gesamtbelastung, die seltene Erkrankungen mit sich bringen, überschaubar ist. Und dass solche Arzneimittel nicht nur einen medizinischen, sondern auch einen wirtschaftlichen Nutzen haben können.
Seltene Erkrankung: Max. 5 von 10.000 Betroffene. ©iStock.com/gorodenkoff
Seltene Erkrankung: Max. 5 von 10.000 Betroffene. ©iStock.com/gorodenkoff

Die Entwicklung von Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen – das sind solche, von denen in Europa maximal fünf von 10.000 Menschen betroffen sind – wird besonders gefördert. Das macht Sinn, denn sie stellen Arzneimittelentwickler vor besondere Herausforderungen – nicht nur aus wissenschaftlichen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen.

Seit dem Jahr 2000 gilt in der Europäischen Union eine Verordnung, die diesen Herausforderungen Rechnung trägt. Sie schafft Anreize, um Forschung auch dort zu ermöglichen, wo finanzielle Risiken wie Bremsschuhe wirken (Pharma Fakten berichtete).

Die EU-Verordnung 141/2000 hat viele dieser Bremsklötze gelöst – seitdem sie gilt, sind in der EU rund 200 so genannte Orphan Drugs zugelassen worden.

Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Zahl zu betrachten.

  • Das ist eine ungeheuer positive Entwicklung. Zwischen 1996 und 1999 kamen lediglich fünf Medikamente auf den Markt, die nach der später eingeführten Regelung einen Orphan Drug-Status erhalten hätten. Seitdem steigt die Zahl stetig an; allein zwischen 2014 und 2021 waren es 115 neue Wirkstoffe. Oftmals bieten sie eine Behandlung, wo es vorher keine gab. Und per Definition müssen sie dort, wo es bereits Therapien gibt, einen medizinischen Mehrwert belegen – sonst vergibt die EU-Zulassungsbehörde EMA keinen Orphan Drug-Status.
  • Der andere Blickwinkel macht sich die Sicht der Patient:innen zu eigen. Angesichts von rund 6.000 bis 8.000 seltenen Leiden sind 200 Therapien ein Anfang, mehr nicht. Für rund 98 Prozent der Betroffenen gibt es immer noch keine zugelassene, ursächlich wirkende Therapie. Deshalb muss weitergeforscht werden. Der US-Verband PhRMA hat mehr als 700 Wirkstoffkandidaten gezählt, die sich in der Entwicklung befinden.

Schuld hat die Wissenschaft: Seitdem es dank der Genomik und der Präzisionsmedizin gelingt, komplexe Krankheiten immer besser zu verstehen, steigt das Angebot verfügbarer Therapien. Dass die zu einem zwar prozentual einstelligen, aber stetig wachsenden Anteil an den Arzneimittelkosten beitragen, alarmiert viele. Deshalb wird die Abschaffung oder die Reform des so genannten „Orphan Drug-Privilegs“ sowie mehr Kostenkontrolle eingefordert. Dabei sind diese steigenden Kosten politisch gewollt: Die Förderung von Wissenschaft, die zu Medikamenten führt, die es vorher nicht gab, muss – und soll – zwangsläufig Geld kosten.

Orphan Drugs: Eine Kostendebatte als Flug durch den Nebel

Foto: ©iStock.com/ismagilov
Foto: ©iStock.com/ismagilov

Die Debatte über steigende Kosten orientiert sich in Deutschland ausschließlich an den Preisschildern neuer Medikamente, die im Übrigen eine Verhandlungslösung zwischen dem forschenden Unternehmen und den entsprechenden Organen der Selbstverwaltung sind. Sie ist deshalb eine Debatte ohne Kontext, eine Debatte im Blindflug: Wir diskutieren die Arzneimittelkosten, kennen aber nicht den wirtschaftlichen Nutzen. Bei der ökonomischen Gesamtbelastung, die seltene Erkrankungen in unserer Gesellschaft hinterlassen, tappen wir im Dunkeln. Aber nur, wenn solche Parameter bekannt sind, macht eine Kostendebatte überhaupt Sinn.

Fragen, die sich stellen, sind zum Beispiel:

  • Wie hoch sind die medizinischen, nicht-medizinischen und indirekten Gesamtkosten einer seltenen, unbehandelten oder nur unzureichend behandelbaren Krankheit?
  • Was bedeutet ein innovatives Arzneimittel nicht nur für die Lebensperspektive und -qualität von Patient:innen, sondern auch für ökonomisch-soziale, gesamtgesellschaftliche Aspekte – etwa, wenn Menschen aufgrund einer neuen Therapie zurück ins Leben finden?
  • Welche finanziellen Folgen ergeben sich, wenn an die Stelle einer lebenslangen Therapie eine Einmalbehandlung mit einem Gentherapeutikum tritt, die Nachfolgebehandlungen gar nicht mehr oder in viel geringerem Umfang notwendig macht?

Seltene Leiden: Studien zeigen die gesellschaftliche Gesamtbelastung

Verschiedene Studien aus den USA haben versucht, einen Teil dieser Fragen zu beantworten. Die Stiftung Everylife etwa schätzt die Gesamtkosten von 379 seltenen Erkrankungen in den USA auf 966 Milliarden US-Dollar (Zahlen von 2019). Sie berücksichtigt dabei nicht nur die direkten medizinischen Kosten, die rund 43 Prozent der Gesamtkosten verursachen, sondern auch indirekte und nicht-medizinische Kosten – die etwa durch Frühverrentung oder Einkommensverluste entstehen.

Eine andere Studie, die in der Fachzeitschrift Genetics in Medicine erschienen ist, kommt zu ähnlichen Ergebnissen – und hat festgestellt, dass die Kosten vor allem durch besonders lange, komplexe und deshalb teure Krankenhausaufenthalte getrieben werden, die Menschen mit seltenen Erkrankungen in der Regel durchmachen müssen. Hinzu kommt die Tatsache, dass es im Durchschnitt mehr als sechs Jahre dauert, bis die Patient:innen eine Diagnose erhalten. Eine Odyssee durch das Gesundheitssystem ist für die Betroffenen nicht nur eine erhebliche gesundheitliche Belastung, sondern zieht hohe Kosten nach sich – etwa durch eine Vielzahl von (oft erfolglosen) Arzt- und Krankenhausbesuchen oder den Folgen von Fehlbehandlungen.

Wissenschaftler:innen: Innovationen statt einseitige Kostendebatte

Innovation muss fortgeschrieben werden. Foto: ©iStock.com/Olivier Le Moal
Innovation muss fortgeschrieben werden. Foto: ©iStock.com/Olivier Le Moal

Im US-Fachblatt Health Affairs plädieren Wissenschaftler:innen deshalb für einen holistischen Blick. Die Studien zeigen, „dass die Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente 18 Prozent der gesamten direkten medizinischen Kosten und – was besonders wichtig ist – weniger als 8 Prozent der Gesamtkostenbelastung ausmachen. Während die Zulassung von mehr neuen Therapien für seltene Krankheiten die Kosten in einer Kategorie erhöhen würde, sind wir optimistisch, dass dies die Ausgaben in anderen Bereichen senken würde, vor allem im Hinblick auf die stationäre Versorgung.“

Sie halten ein „kontinuierliches Engagement für mehr Innovation“ für maßgeblich: „So wie Medikamente andere Krankheiten wie HIV und einige Formen von Krebs von unheilbaren in beherrschbare chronische Zustände verwandelt haben und den Patient:innen ein erfüllteres und produktiveres Leben ermöglichen, so wünschen wir uns das auch für seltene Krankheiten. Der langfristige wirtschaftliche Nutzen von Therapien für seltene Krankheiten wird sich auf vielfältige Weise bemerkbar machen, unter anderem durch eine deutliche Verringerung der direkten und indirekten Ausgaben, die in unserer Forschung anfallen.“

Das soll wohl heißen: Nicht die Entwicklung, sondern die Nicht-Entwicklung von Therapien gegen seltene Erkrankungen dürfte am Ende die teurere Option sein. Das so genannte „Orphan Drug-Privileg“ ist am Ende gar keines. Es hat einen bisher nicht dagewesenen Innovationsschub ausgelöst – der fortgeschrieben werden muss.

“The Economic Burden Of Rare Diseases: Quantifying The Sizeable Collective Burden And Offering Solutions”, Health Affairs Forefront, February 1, 2022.

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