„Zu teuer“  „zu wenig nachweisbarer Nutzen“ – es mehren sich die Stimmen  die die deutsche Regelung für Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen reformieren wollen. Doch die Kritik beruht auf Missverständnissen  findet Dierk Neugebauer von Bristol Myers Squibb. Foto: ©iStock.com/ipopba
„Zu teuer“ „zu wenig nachweisbarer Nutzen“ – es mehren sich die Stimmen die die deutsche Regelung für Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen reformieren wollen. Doch die Kritik beruht auf Missverständnissen findet Dierk Neugebauer von Bristol Myers Squibb. Foto: ©iStock.com/ipopba

Deutsche Orphan Drug-Regelung: Ein Erfolgsmodell

„Zu teuer“, „zu wenig nachweisbarer Nutzen“: Das sind nur zwei der Kritikpunkte an Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen. Aktuell mehren sich die Stimmen, die eine Reform der in Deutschland geltenden Orphan Drug-Regelung fordern. Doch die vorgebrachten Argumente beruhen auf Missverständnissen, findet Dierk Neugebauer vom forschenden Pharmaunternehmen Bristol Myers Squibb.
Therapien für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Foto: ©iStock.com/Lordn
Therapien für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Foto: ©iStock.com/Lordn

Tatsache ist: Stück für Stück wird das Versprechen eingelöst, dass auch für Menschen mit seltenen oder sehr seltenen Erkrankungen Therapien entwickelt werden sollen. Seit einer entsprechenden Verordnung, die in Europa seit dem Jahr 2000 gilt, sind fast 200 Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen (die so genannten Orphan Drugs) zugelassen worden und auch die Wirkstoff-Pipelines sind prall gefüllt (Pharma Fakten berichtete).

In Deutschland funktioniert der Zugang zu Orphan Drugs für Patient:innen besonders gut. Dies ist nicht zuletzt eine Folge der deutschen Orphan Drug-Regelung im Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG).

Zum Hintergrund: Seit der Einführung des AMNOG im Jahr 2011 werden neu eingeführte patentgeschützte Arzneimittel vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) auf ihren Zusatznutzen im Vergleich zu bereits vorhandenen Therapien (der sog. zweckmäßigen Vergleichstherapie, ZVT) geprüft. Auf Basis dieser Bewertung verhandeln der pharmazeutische Hersteller und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) einen Erstattungsbetrag. Ebenfalls seit dem Jahr 2011 gilt für Orphan Drugs der Zusatznutzen bereits durch die Zulassung durch die Europäische Zulassungsbehörde EMA als belegt. Bewertet wird nur noch das Ausmaß des Zusatznutzen – als Basis für die Preisverhandlungen. Diese vermeintliche Privilegierung von Arzneimitteln zur Behandlung seltener Erkrankungen wird von einigen Vertretern des Gesundheitswesens kritisiert: Der festgestellte Zusatznutzen sei nur ein rechtliches, fiktives, medizinisch oft nicht begründbares Konstrukt, heißt es.

Zuletzt wurde die deutsche Orphan Drug-Regelung vom G-BA, vom IQWiG und auch vom Vorstandsvorsitzenden der Krankenkasse DAK Gesundheit kritisiert und ihre Abschaffung oder zumindest die Reform gefordert. Über diese Diskussion sprachen wir mit Dierk Neugebauer, Vice President Market Access und Mitglied der Geschäftsleitung bei Bristol Myers Squibb in Deutschland.

Dierk Neugebauer. Foto: ©BMS
Dierk Neugebauer. Foto: ©BMS

Ist die Privilegierung von Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen im AMNOG heute noch zeitgemäß?

Dierk Neugebauer: Die Orphan Drug-Regelung des AMNOG ist absolut zeitgemäß. Aber die Diskussion beruht auf einer Reihe von Missverständnissen und Fehlannahmen. Eines davon ist der Glaube, die Regelung sei eine Privilegierung, ein anderes ist die These, der Zusatznutzen von Orphan Drugs sei im AMNOG nur eine rechtliche Fiktion ohne medizinische Grundlage.

Das müssen Sie genauer erklären.

Neugebauer: Die deutsche Orphan Drug-Regelung ist nicht ohne die Kenntnis der europäischen Orphan-Drug-Regelung und deren Entstehungsgeschichte zu verstehen. Es gibt schätzungsweise 6.000 bis 8.000 seltene Erkrankungen. Sehr oft sind Kinder betroffen. Da jeweils nur wenige Menschen betroffen sind und die klinische Forschung bei diesen seltenen Erkrankungen oftmals kompliziert und sehr aufwändig ist, wurden früher nur wenige Arzneimittel entwickelt, viele Forschungsprojekte wurden nicht finanziert und daher gar nicht erst begonnen. Deshalb wurde im Jahr 2000 die europäische Verordnung 141/2000 verabschiedet. Sie gewährt Arzneimittelentwicklern auf der Basis enger Kriterien wirtschaftliche Anreize. Wichtig ist dabei die zehnjährige Marktexklusivität, die das Arzneimittel vor direkter Konkurrenz schützt. Dies gilt jedoch nur dann, wenn nicht ein anderer Arzneimittelentwickler nachweisen kann, wie es in der europäischen Verordnung Nr. 847/2000 heißt, dass sein Präparat „sicherer“ oder „wirksamer“ ist.

Und? Was hat die Regelung gebracht?

Neugebauer: Aus der Sicht der Patientinnen und Patienten wissen wir, dass sie als ein Segen empfunden wird. Vor dem Jahr 2000 wurden nur sehr wenige Arzneimittel gegen seltene Krankheiten zugelassen, heute kommt jedes Jahr eine zweistellige Zahl dazu. Von damals bis heute sind fast 200 Orphan Drugs zugelassen worden. Ich denke hier beispielsweise an Myelofibrose, eine sehr seltene Form von Knochenmarkkrebs, bei der Patientinnen und Patienten dringend auf neue Medikamente angewiesen sind. Hier gab es jetzt weitere Fortschritte in der Therapie. Oder an Beta Thalassämie, eine hierzulande sehr seltene angeborene Bluterkrankung, bei der die Menschen oftmals ihr Leben lang auf Bluttransfusionen angewiesen sind und wo an Therapien geforscht wird, die entweder versuchen die Krankheit zu heilen oder zumindest die Abhängigkeit von Bluttransfusionen zu reduzieren.

Das klingt nach einer Erfolgsgeschichte…

Orphan Drugs: Die Entwicklung von Therapien kostet Geld. 
Foto: ©iStock.com/ipopba
Orphan Drugs: Die Entwicklung von Therapien kostet Geld.
Foto: ©iStock.com/ipopba

Neugebauer: Ja, aber wir dürfen uns nicht darauf ausruhen. Angesichts der vielen seltenen Erkrankungen kann das erst ein Anfang sein. Viele Patienten warten noch immer auf eine wirksame Therapie. Übrigens profitieren Patientinnen und Patienten in Deutschland in besonderem Maße, denn beim Zugang und der Verfügbarkeit von Orphan Drugs sind wir hierzulande führend. Dies ist nicht zuletzt eine Folge der deutschen Orphan-Drug-Regelung im AMNOG. Es ist, wie Sie sagen, eine Erfolgsgeschichte, die aber, so scheint mir, gerade deswegen in der Diskussion ist. Denn natürlich bedeutet das auch, dass mehr Geld in die Hand genommen werden muss: Es geht ja um Therapien, die es bisher nicht gab – und eben auch kein Geld gekostet haben.

Überfordert diese Entwicklung die finanzielle Stabilität der Gesetzlichen Krankenversicherung?

Neugebauer: Nein, das überfordert das System nicht. Seit Einführung des AMNOG im Jahr 2011 ist der Anteil der Arzneimittelausgaben an den GKV-Gesamtausgaben nahezu konstant bei rund 16 Prozent geblieben. Es ist zwar unbestritten, dass die Ausgaben für Onkologika, Orphan Drugs und weitere Spezialpräparate in den letzten Jahren gestiegen sind. Solange jedoch in anderen Bereichen Einsparungen z. B. durch Ablauf von Patenten erzielt werden können, ist dies noch nicht einmal aus einer engen Kostenperspektive ein Problem. Die Einzelpreise für Orphan Drugs sind wegen der geringen Patientenzahlen natürlich höher als bei Arzneimitteln gegen Volkskrankheiten. Die Kosten für die Gesellschaft sind dennoch gering, denn es betrifft nur wenige Fälle. Nicht einmal zwei Promille unseres Bruttoinlandsproduktes entfällt auf Arzneimittel zur Therapie seltener Erkrankungen. Zudem liegen die jährlichen Umsätze in Deutschland für knapp zwei Drittel der Orphan Drugs unter zehn Millionen Euro, für mehr als die Hälfte davon sogar unter einer Million Euro.

Aber wo liegen denn jetzt genau die Missverständnisse? Was wird aktuell diskutiert?

Neugebauer: Oft wird in der Diskussion übersehen, dass die Orphan-Drug-Regelung im AMNOG kein Privileg ist und der Zusatznutzen bereits belegt wurde. Denn die Gewährung des Orphan-Drug-Status ist auf europäischer Ebene an Kriterien gebunden, die eine Bewertung des Zusatznutzens im Vergleich zu anderen Therapien klar beinhalten. In der europäischen Verordnung 141/2000 ist verankert, dass allein das Kriterium der Seltenheit nicht ausreicht, um den Status eines Orphan Drugs zu erhalten.

Welche Kriterien müssen noch erfüllt sein?

Seltene Erkrankungen: Generierung von Daten ist oft eine große Herausforderung. Foto: ©iStock.com/ipopba
Seltene Erkrankungen: Generierung von Daten ist oft eine große Herausforderung. Foto: ©iStock.com/ipopba

Neugebauer: Voraussetzung ist darüber hinaus, dass die Erkrankung lebensbedrohend ist oder eine chronische Invalidität nach sich zieht. Und: Es darf keine zufriedenstellende Methode für die Behandlung des betreffenden Leidens zugelassen sein. Gibt es eine solche Therapie, muss der neue Wirkstoff von erheblichem Nutzen für die Betroffenen sein, um den Orphan-Drug-Status erhalten zu können. Die Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden wird also nur dann erteilt, wenn es die derzeitig verfügbare Behandlung der Betroffenen verbessert. Das ist nichts anderes als ein Zusatznutzen. Und genau dieser Tatsache hat der Gesetzgeber bei der Einführung der Orphan-Drug-Regelung in Deutschland Rechnung getragen.

Das IQWiG kommt jedoch in seiner Analyse zu dem Ergebnis, dass in der Nutzenbewertung in 54 Prozent der Fälle kein Zusatznutzen besteht. Steht das nicht im Widerspruch zu Ihren Aussagen?

Neugebauer: Nein, keineswegs. Es verdeutlicht viel mehr, wo die Missverständnisse liegen. Die Generierung von Daten ist bei seltenen Erkrankungen oft eine große Herausforderung. Die Bewertungsmethodik des AMNOG ist auf häufigere Krankheiten mit größeren Datenmengen ausgerichtet. Eine Abschaffung der Orphan-Drug-Regelung würde deshalb Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen mit einer Methodik ausbremsen, die nicht für sie gemacht ist. Diese Methodik ist aber die Grundlage der 54-Prozent-Analyse des IQWiG. Die methodischen Anforderungen der Zusatznutzenbewertung sollten vielmehr der jeweiligen Therapiesituationen angemessen sein.

Aber ist ein Maximum an Ergebnissicherheit und Objektivität bei der Messung des Zusatznutzens nicht im Interesse der Patientinnen und Patienten?

Neugebauer: Nur in einer idealen Welt ohne Beschränkungen und Knappheiten. In der Realität kann die Bewertung des Zusatznutzens nie völlig objektiv sein. Die Ermittlung, Analyse und Bewertung medizinischer Forschungsergebnisse ist eine empirische Wissenschaft und keine Mathematik. Es gibt unvermeidbar ein gewisses Maß an Unsicherheit über das Ergebnis. Ein Zusatznutzen ist letztlich nicht objektiv messbar.

Das klingt theoretisch und abstrakt …

Foto: ©iStock.com/shironosov
Foto: ©iStock.com/shironosov

Neugebauer: … ist aber ganz praktisch belegbar. Eine Vielzahl von empirischen Analysen zeigt, dass sich die Einschätzungen des Zusatznutzens derselben Arzneimittel beispielsweise zwischen dem G-BA, dem IQWIG, dem britischen NICE, dem französischen HAS, den medizinischen Fachgesellschaften und deren Leitlinien z.T. erheblich unterscheiden. Und die Zusatznutzenbewertung der europäischen Zulassungsbehörde EMA unterscheidet sich eben von der des G-BA. Basis für die Entscheidungen sind zumeist unterschiedliche Risikoabwägungen zwischen dem potenziellen Nutzen einer medizinischen Intervention und den damit verbundenen Risiken.

Heißt das, es gibt kein „ganz falsch“ oder „ganz richtig“?

Neugebauer: Das ist der Kern der Diskussion: Wessen Methodik ist für die Bewertung des Zusatznutzens von Orphan Drugs besser geeignet – die des G-BA oder die der Europäischen Zulassungsbehörde EMA? Deren Senior Medical Officer Professor Hans-Georg Eichler hat das Dilemma – sinngemäß – wie folgt auf den Punkt gebracht: Der Versuch, jedes Risiko zu vermeiden, bringt selber Risiken für die Patientinnen und Patienten mit sich. Er führt zu verlorenen therapeutischen Optionen und zu Verzögerungen beim Zugang zu Therapeutika.

Ein schönes Schlusswort…

Neugebauer: Diese Perspektive sollte uns bei der Diskussion über die Orphan-Drug-Regelung leiten. Es ist bei seltenen Krankheiten nicht immer, aber oft sehr schwer, wünschenswerte Evidenz zu gewinnen, was aber nicht heißt, dass es sie nicht gibt. Gerade Menschen mit seltenen Erkrankungen befinden sich oft in einer existenziellen Situation. Sie haben oft schlicht nicht die Zeit, um zu warten, bis völlige Sicherheit besteht. Das sollte sich aus meiner Sicht in der Bewertungsmethodik widerspiegeln. Bei der EMA – vielleicht, weil dort die Patienten bei der Entscheidung über den Orphan Drug Status stimmberechtigt sind – ist dies, anders als beim G-BA, aus meiner Sicht ausreichend der Fall.

Ihre Forderung?

Neugebauer: Die deutsche Orphan Drug-Regelung ist ein Erfolgsmodell, wir sollten sie nicht antasten, damit wir führend bei der Versorgung der Menschen mit seltenen Erkrankungen bleiben und ihnen eine Perspektive geben können.

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