Zum Tag der seltenen Erkrankungen: Graham Skarnvad von Alexion Pharma Germany im Interview. Foto: ©Alexion Pharma Germany GmbH / Fotograf: Andreas Hawe
Zum Tag der seltenen Erkrankungen: Graham Skarnvad von Alexion Pharma Germany im Interview. Foto: ©Alexion Pharma Germany GmbH / Fotograf: Andreas Hawe

Herausforderung angenommen: Arzneimittelentwicklung für seltene Erkrankungen

Vor fast 140 Jahren wurde sie zum ersten Mal beschrieben: die Paroxysmale Nächtliche Hämoglobinurie (PNH). Doch es hat lange gedauert, bis Forscher genug über die zugrundeliegenden Krankheitsmechanismen verstanden hatten, um eine spezifische Therapie entwickeln zu können. So wie bei der PNH ist es meistens bei seltenen Erkrankungen: Es sind nur wenige Patienten betroffen; das Wissen ist begrenzt. Im Interview spricht Graham Skarnvad, General Manager bei Alexion Pharma Germany, über die besonderen Herausforderungen, mit denen die Arzneimittelentwicklung konfrontiert ist.

Die PNH ist eine lebensbedrohliche Erkrankung, für die es bis 2007 keine spezifische Behandlung gab. Was macht die PNH aus?

Graham Skarnvad: Die PNH ist eine seltene Bluterkrankung, von der weniger als 20 Menschen unter einer Million betroffen sind. Die Erkrankung ist durch eine Komplement-vermittelte Zerstörung der roten Blutkörperchen (Hämolyse) gekennzeichnet und kann eine Vielzahl schwächender Symptome und Komplikationen hervorrufen. Unter anderem können Thrombosen entstehen, die im gesamten Körper auftreten und zu Organschäden und vorzeitigem Tod führen können. Dabei variieren die Symptome hinsichtlich Ausprägung und Kombination von Patient zu Patient stark.

Welche wissenschaftliche Erkenntnis legte den Grundstein für die Entwicklung einer spezifischen Therapie?

Skarnvad: Vor ca. 100 Jahren beschrieb der belgische Immunologe Jules Jean Baptist erstmals den später als „Komplement“ bezeichneten Bestandteil des Immunsystems. In den 70er Jahren begann dann die Erforschung des Komplement-Systems auf molekularer Ebene. Heute wissen wir: Das Komplement-System übernimmt als Teil des Immunsystems nicht nur eine Schutzfunktion, es ist auch in die Pathogenese verschiedener Erkrankungen involviert und kann schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben.

Die Entschlüsselung der verschiedenen Komponenten der Komplement-Kaskade machte schließlich die Erforschung von Medikamenten möglich, die eine ungewünschte Aktivierung des Komplement-Systems hemmen, wie zum Beispiel die Paroxysmale Nächtliche Hämoglobinurie, abgekürzt PNH.

General Manager bei Alexion Pharma Germany: Graham Skarnvad. ©Alexion Pharma Germany GmbH / Fotograf: Andreas Hawe
General Manager bei Alexion Pharma Germany: Graham Skarnvad. ©Alexion Pharma Germany GmbH / Fotograf: Andreas Hawe

Diese Kombination aus lückenhaftem Wissen über die Erkrankung und einer sehr niedrigen Patientenzahl mit unterschiedlichen Krankheitsvarianten macht klinische Entwicklungsstudien bei seltenen Erkrankungen mit einer ausreichenden Anzahl an Patienten als Grundlage für die Zulassung zu einer riesige Herausforderung: Wir haben seit der Zulassung unseres ersten Komplement-Inhibitors unsere Forschungsaktivitäten zu PNH ständig weitergeführt und konnten zuletzt ungefähr 400 Patienten weltweit in das größte Phase-3-Studienprogramm, das bisher in PNH durchgeführt wurde, einschließen. Zusätzlich tragen wir durch das PNH Register dazu bei, das Wissen über die PNH insgesamt zu vergrößern, mittels sogenannter Real-World Evidenz.

Sie deuten es schon an: Die Entwicklung von Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten ist nicht ganz einfach…

Skarnvad: Zwar sind die Gesamtinvestitionen in Forschung und Entwicklung für seltene Krankheiten – nicht zuletzt aufgrund unterstützender Rahmenbedingungen wie der europäischen Orphan Drug Verordnung – gestiegen, aber es gibt weiterhin eine ganze Reihe von Herausforderungen.

Nach wie vor ist die Arzneimittelentwicklung mit Risiken und Herausforderungen verbunden, die bei seltenen Krankheiten aus ganz verschiedenen Gründen noch größer sind. Das kann man deutlich an der durchschnittlichen Erfolgsrate bei der Entwicklung von Orphan Drugs (6,2 %) im Vergleich zu Arzneimittelentwicklung insgesamt (48,8-75,9 %) ablesen.

Vor welchen Herausforderungen stehen forschende Pharmaunternehmen im Bereich der seltenen Erkrankungen konkret?

Skarnvad: Erstens: Selbst in der medizinischen Fachwelt gibt es oft nur ein begrenztes Wissen und Verständnis für die jeweilige Erkrankung. Es gibt nur wenige Experten und diese behandeln im Laufe ihres Berufslebens oft nur einige wenige Patienten. Zweitens: Die Tatsache, dass die Krankheiten einerseits selten, andererseits meist sehr komplex sind, führt häufig dazu, dass wir ihre Ursachen nicht vollständig verstehen. Dies bedeutet in der Regel, dass wir vor oder parallel zum klinischen Studienprogramm wissenschaftliche Studien durchführen müssen, um den Verlauf der Krankheit besser zu verstehen. Drittens: Es ist notwendig, eine ausreichende Anzahl von Patienten zu identifizieren, die an klinischen Studien teilnehmen, was häufig in einer großen Anzahl von Prüfzentren in mehreren Ländern resultiert. Mitunter kann es für die Patienten aufgrund großer räumlicher Distanz auch schwierig sein, zu den Studienzentren zu gelangen.

Und viertens: Es besteht ein erhöhtes regulatorisches Risiko, da es für eine bestimmte sehr seltene Krankheit in der Regel keinen gut etablierten Fahrplan für die behördliche Zulassung gibt. Das klinische Studienprogramm muss entwickelt werden, wobei in den meisten Fällen keine vordefinierten klinischen Endpunkte existieren. Daher ist es bei seltenen Krankheiten von entscheidender Bedeutung, mit klinischen Experten, Akademikern, Behörden und mit Patientenorganisationen zusammenzuarbeiten, um die richtigen, patientenrelevanten Endpunkte für Entwicklungsstudien zu bestimmen: Die Studiendesigns, die dann für regulatorische Zwecke umgesetzt werden, entsprechen möglicherweise nicht den Vorgaben der Erstattungsbehörden, und dies stellt dann eine zusätzliche Hürde dar.

Tag der seltenen Erkrankungen. ©www.rarediseaseday.org/Eurordis
Tag der seltenen Erkrankungen. ©www.rarediseaseday.org/Eurordis

In den vergangenen Jahren haben sich die Rahmenbedingungen zur Entwicklung von Orphan Drugs aber verbessert – oder?

Skarnvad: Die Einführung der europäischen Orphan-Drug-Verordnung 2000 hatte einen erheblichen Anstieg der Forschung und Entwicklung im Bereich der seltenen Erkrankungen zur Folge. Seitdem wurden über 160 neue Therapien für seltene Erkrankungen von der EMA zugelassen und damit konnte vielen betroffenen Patienten geholfen werden. Voraussetzung für diese positive Entwicklung sind neben den europäischen Rahmenbedingungen auch die konkreten Regelungen in den Mitgliedstaaten. Eine gemeinsame Politik zur Förderung von Arzneimitteln zur Behandlung von Patienten mit seltenen Krankheiten funktioniert und ist notwendig.

Ist gesundheitspolitisch trotzdem noch Luft nach oben?

Skarnvad: Tatsächlich muss noch mehr getan werden. Die Aufrechterhaltung des richtigen regulatorischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Umfelds für die Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Leiden ist entscheidend für das Ziel, Therapien auch für die ca. 95% der seltenen Krankheiten zu entwickeln, für die es heute noch keine Behandlungsoption gibt.

Eine besondere Verantwortung kommt dabei den politischen und den behördlichen Entscheidungsträgern zu. In Kürze erwarten wir eine Überarbeitung der europäischen Orphan Drug Verordnung in Brüssel und auch in Deutschland wurden im Rahmen des Gesetzes für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) neue Regelungen eingeführt, die in den kommenden Monaten implementiert werden. Jede Veränderung sollte darauf abzielen, betroffenen Patienten einen möglichst schnellen, ungehinderten Zugang zu neuen Behandlungsmöglichkeiten zu ermöglichen. Auch für die forschenden Unternehmen sollte es verlässliche Rahmenbedingungen geben, die ihnen ermöglichen, weiter neue Therapien zu entwickeln.

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