„Das Coronavirus verstehen“: Der Uniprofessor Raul Rabadan aus New York hat ein Sachbuch geschrieben  bei dem der Inhalt tatsächlich hält  was der Titel verspricht. Foto: ©iStock.com/wildpixel
„Das Coronavirus verstehen“: Der Uniprofessor Raul Rabadan aus New York hat ein Sachbuch geschrieben bei dem der Inhalt tatsächlich hält was der Titel verspricht. Foto: ©iStock.com/wildpixel

Coronavirus-Pandemie: Wenn Mathematik an Grenzen stößt

Trotz weiterhin steigender Infektions- und Todesraten diskutiert die Republik über ein Ende von Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren. Über den Sinn dieser Debatte und die Grenzen statistischer Konzepte in der Prognose der Coronavirus-Pandemie ein Gespräch mit der Psychologin und Statistikerin Katharina Schüller. Sie ist Geschäftsführerin und Gründerin von STAT-UP, ein Spezialanbieter für Statistische Beratung und Data Science.
Katharina Schüller. Foto: privat
Katharina Schüller. Foto: privat

Frau Schüller, man hört viel von der exponentiellen Ausbreitung des Virus. Können Sie diese Dynamik beispielhaft an Zahlen verdeutlichen?

Katharina Schüller: Wir kennen alle das Bild vom Schneeballeffekt: Jede infizierte Person infiziert weitere Personen, die wiederum andere infizieren. Das führt in einer Pandemie unweigerlich dazu, dass sich die Zahl der Betroffenen in einem bestimmten Zeitraum verdoppelt. Ist dieser Zeitraum kurz, wird die absolute Anzahl der Infizierten rasch sehr groß. Zu den Zahlen: Wir beobachten zwischen dem 15. und dem 23. März eine tägliche Wachstumsrate von circa 23 Prozent. Die Zahl der Infizierten verdoppelte sich folglich alle drei Tage. Inzwischen scheint der Trend etwas abzunehmen, wenngleich nicht klar ist, ob diese Abnahme auf mangelnde Testkapazitäten zurückzuführen ist. Konkreter: Hatten wir am 15. März 6.000 Infizierte, sind es bei einer 23-prozentigen Steigerung 14 Tage später 109.000 und nach 30 Tagen rund drei Millionen. Dass das Gesundheitssystem sehr schnell an seine Grenzen stoßen würde, zeigt diese Beispielrechnung: Selbst bei „nur“ 0,5 Millionen Infizierten und einem Anteil schwerer Verläufe von drei Prozent wären die heute verfügbaren Intensivkapazitäten bei weitem ausgereizt, wenn nicht überschritten.

Man kann also die Entwicklung einer Pandemie ziemlich genau prognostizieren?

Schüller: Theoretisch kann man das. Es gibt im Wesentlichen drei Faktoren: Es ist – erstens – entscheidend, wie viele Menschen eine infizierte Person ansteckt. Das ist der so genannte Reproduktionsfaktor, der nicht nur vom Virus, sondern auch von unserem Kontaktverhalten abhängt. Darüber hinaus ist für diesen Reproduktionsfaktor – zweitens – entscheidend, wie lange eine infizierte Person ansteckend ist. Und schließlich ist die Frage wichtig, ob nach dem Durchstehen der Krankheit eine Immunität eintritt oder man sich wieder neu infizieren kann. Und nun zum Problem: Wir haben für diese Faktoren keine völlig trennscharfen Informationen, denn ein neues Virus bedeutet: Wir betreten Neuland. Und deshalb können selbst Experten aufgrund der unsicheren Datenlage die Zahl der Neuinfektionen nicht verlässlich prognostizieren.

Dann sind die getroffenen Maßnahmen – Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren – aus der Sicht der Statistikerin richtig?

Schüller: Solange es keinen Impfstoff gibt – oder ein wirksames Medikament – ist der Reproduktionsfaktor die entscheidende Stellschraube. Fällt der auf den Wert 1, wird die Anzahl der Neuinfektionen bei dem dann erreichten Stand stabilisiert, fällt er darunter, geht die Zahl wieder zurück. Uns bleibt als einzige, sicher schmerzhafte Strategie, durch die generelle Verringerung der direkten sozialen Kontakte die Ausbreitung von COVID-19 zu verlangsamen. Nehmen wir die Zahlen von oben: Zwei Wochen nach dem 15. März sind wir bei 66.000 Infizierten – registrierten wohlgemerkt, die Dunkelziffer mag erheblich höher sein. Bei einer täglichen Wachstumsrate von zukünftig 10 statt 23 Prozent hätten wir, vom 15. März aus gerechnet, nach 30 Tagen 250.000 Infizierte – ein gewaltiger Unterschied.

Foto: ©iStock.com/toeytoey2530
Foto: ©iStock.com/toeytoey2530

Es liegt an uns: Je konsistenter wir uns alle die Hände waschen, Distanz halten und andere hygienische Maßnahmen ergreifen, desto geringer ist die Wachstumsrate. Aus meiner Sicht reichen diese Beispielrechnungen vollkommen aus, um ein entschlossenes politisches Handeln zu begründen: die Eindämmung der Neuinfektionen als oberste Priorität. Wird der Reproduktionsfaktor nicht rasch in Richtung des Wertes 1 gedrängt, wird das deutsche Gesundheitssystem innerhalb kürzester Zeit kollabieren.

Das Land ist eine Woche quasi in Quarantäne und trotzdem steigen die Fallzahlen weiter. Wie kann das sein?

Schüller: Das Schlüsselwort ist die Inkubationszeit – also der Zeitraum zwischen der Infektion und dem Auftreten von Krankheitssymptomen. Sie verhindert – zumindest, wenn man nicht flächendeckend testet – dass man Infizierte früh erkennen und isolieren kann. Vor allem aber führt sie unweigerlich dazu, dass Maßnahmen, die heute eingeleitet werden, erst in wenigen Tagen oder gar Wochen sichtbar werden. Nicht vergessen dürfen wir auch, dass die Zahl der getesteten Infizierten nur bedingt etwas mit der Zahl der tatsächlich Infizierten zu tun hat. Wir testen Menschen, die keine oder nur geringe Symptome haben, ja in der Regel nicht. Es kann auch passieren, dass aufgrund engmaschigerer Teststrategien und schnellerer Verfahren die Zahl der Infizierten steigt, obwohl keine beschleunigte Erkrankungsdynamik zugrunde liegt. Oder umgekehrt, dass aufgrund mangelnder Testkapazitäten relativ gesehen immer weniger Infizierte erkannt werden. Ohne repräsentative Tests können wir die Wirksamkeit der Maßnahmen nicht valide beurteilen.

Ihr Fazit?

Jede Verzögerung in der Pandemiedynamik ist ein Gewinn dringend benötigter Zeit. Foto: ©iStock.com/jarun011
Jede Verzögerung in der Pandemiedynamik ist ein Gewinn dringend benötigter Zeit. Foto: ©iStock.com/jarun011

Schüller: Pandemie managen heißt unweigerlich: Fahren auf Sicht. Ob die ergriffenen Maßnahmen mit dem Ziel, den Reproduktionsfaktor zu senken, wirken, werden wir ohne repräsentative Bevölkerungsstichproben, die in anderen europäischen Ländern bereits durchgeführt werden, frühestens in ein bis zwei Wochen sehen. Solange gilt: Jede Verzögerung in der Pandemiedynamik ist ein Gewinn dringend benötigter Zeit, um Behandlungskapazitäten aufzubauen und die Entwicklung von Impfstoffen und Arzneimitteln voranzutreiben. Dadurch könnte auch Zeit gewonnen werden, um umfassendere Testkapazitäten aufzubauen, um möglichst viele Menschen schnell und wiederholt zu testen. Das würde uns die Möglichkeit eröffnen, stufenweise in ein einigermaßen normales Leben zurückzukehren und damit die negativen Konsequenzen dieser Pandemie zu begrenzen.

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