Aus der Geschichte für die Zukunft lernen: Zwei Medizinhistoriker veröffentlichen am 2. Juni ein Buch  das sich mit Pandemien in Geschichte  Gegenwart und Zukunft beschäftigt. Foto: ©iStock.com/RomeoLu
Aus der Geschichte für die Zukunft lernen: Zwei Medizinhistoriker veröffentlichen am 2. Juni ein Buch das sich mit Pandemien in Geschichte Gegenwart und Zukunft beschäftigt. Foto: ©iStock.com/RomeoLu

Was wir aus Covid-19 und anderen Pandemien lernen können

Das Buch zu Covid-19: Mit „Pest und Corona - Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft“ haben die Medizinhistoriker Heiner Fangerau und Alfons Labisch eine schnelle, aber durchaus tiefgehende Antwort auf die „größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“ gefunden. Lohnt sich die Lektüre?

Das Buch kam schnell, aber nicht so schnell wie die exklusiven Hintergrundberichte in „Spiegel“, „Zeit“ und „Süddeutsche“ oder die Corona-Hyper-Mega-Spezial-Extra-Sondersendungen im Deutschen Fernsehen. Trotzdem enthalten die historischen Abhandlungen zu Pest und Cholera, zu Pocken und Syphilis im ersten Teil des Buches durchaus neue und überraschend Aspekte – etwa zum Einfluss von mittelalterlichen Seuchen auf die Entwicklung früher Sanitärsysteme. Spannend wird es auch bei der Frage, ob Covid-19 eine „skandalisierte Krankheit“ sein könnte – im Gegensatz etwa zur Malaria, die pro Jahr mehr als eine Million Todesfälle verursacht, ohne dass es deswegen einen öffentlichen Aufschrei gäbe. Covid-19 dagegen beherrscht seit Wochen die Schlagzeilen und hat sich tief in das Bewusstsein der gesamten Weltbevölkerung gegraben. Ist es damit auch skandalisiert? „Ja und nein“, sagen die Autoren. „Ja“, weil es im Laufe der Geschichte zahlreiche Pandemien mit weitaus mehr Todesfällen gab, nicht nur Pest und Cholera, sondern auch die Spanische Grippe von 1918, die nach seriösen Schätzungen weltweit bis zu 50 Millionen Tote gefordert hat. Bei Covid-19 sind es bislang nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität rund 350.000 Todesfälle. Aber: Das Coronavirus könnte eben durchaus dazu führen „dass auch das am besten vorbereitete Gesundheitswesen der Welt in kurzer Zeit einbricht“ – und deswegen sei Covid-19 eben doch keine „skandalisierte Krankheit“, sondern ein „potenziell echter Killer“.

Prof. Dr. Heiner Fangerau. Foto: Universitätsklinikum Ulm
Prof. Dr. Heiner Fangerau. Foto: Universitätsklinikum Ulm

Aber: Das Coronavirus könnte eben durchaus dazu führen „dass auch das am besten vorbereitete Gesundheitswesen der Welt in kurzer Zeit einbricht“ – und deswegen sei Covid-19 eben doch keine „skandalisierte Krankheit“, sondern ein „potenziell echter Killer“.

Die Autoren zeigen an Beispielen aus der Geschichte, wie fatal es sich auswirken kann, wenn Maßnahmen zur Bekämpfung einer Seuche unterbleiben: So gab es 1918 in St. Louis nur halb so viele Grippetote pro 100.000 Einwohner wie in Philadelphia. Dort waren „Paraden und andere öffentliche Veranstaltungen geduldet“, in St. Louis hingegen wurden „die Kontaktmöglichkeiten weitgehend unterbunden“ (Pharma Fakten berichtete). Noch sinnvoller, als eine Pandemie zu bekämpfen, ist es nach Fangeraus und Labischs Überzeugung allerdings, einen Seuchen-Ausbruch von vornherein zu verhindern oder zumindest schnell und wirkungsvoll einzudämmen.

Was ist zu tun?

Wie das funktionieren kann erläutern sie im letzten und stärksten Kapitel des Buches, das mit einer einfachen Frage überschrieben ist: „Was ist zu tun?“ Wie schon Cholera und Influenza im 19. Jahrhundert breitete sich Covid-19 über die Handelsrouten aus, insbesondere über die 225.000 Flugbewegungen, die pro Tag auf der Welt erfasst werden (Stand: Juni 2019). „Durch unseren Handel und Wandel schaffen wir die Wege, auf denen sich Seuchen ausbreiten“, so die beiden Historiker, „das bedeutet: Hier können wir etwas tun, um die Verbreitung zu beeinflussen.“ Gemeint sind damit nicht nur die aktuellen Einschränkungen des Flugverkehrs, sondern auch das „Zusammenleben von Mensch und Tier und unserer Art des Wirtschaftens“ – wie andere Erreger sprang vermutlich auch Covid-19 vom Tier auf den Menschen über. „Auch hier können wir etwas tun“, so Fangerau und Labisch – so sollte es zum Beispiel keine Märkte mit lebenden Tieren mehr geben.

Aber was genau können wir sonst noch tun? „Uns dauerhaft isolieren, zurückkehren zum autochthonen Wirtschaften?“ Das wäre keine wirkliche Lösung, wie die Autoren mit einem medizinischen Vergleich unterstreichen:

Buch-Cover: Pest und Corona - Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft.
Buch-Cover: Pest und Corona – Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft.

„Der Hirnchirurg muss eine Blutung ins Hirn unterbinden, gleichzeitig muss er die Blutzufuhr ins Hirn aufrechterhalten, sonst stirbt erst das Hirn und dann der Mensch. In ähnlicher Weise sollte – das zeigen die historischen Ereignisse – Gesundheit national wie international vorausgreifend gesichert werden.“

Möglichkeiten der WHO ausweiten

Das beginnt schon mit der Bekämpfung von Armut, denn „soziale Ungleichheit, schlechte Wohnverhältnisse, Mangelernährung und mangelhafte Hygiene begünstigen die Entstehung von Seuchen.“ Deshalb sollte sich „die weltweite Bevölkerungs- und Agrarpolitik daran orientieren, wie sie die Gesundheit verbessern kann. Das Gleiche gilt für die Wirtschafts- und Umweltpolitik.“ Epidemien lassen sich jedoch nur dann kontrollieren, wenn es eine internationale Zusammenarbeit gibt – bei Pandemieplänen, beim Aufbau von Früherkennungs- und Schnellreaktionssystemen oder auch bei der Kommunikation. Die Autoren regen deshalb an, „die Möglichkeiten und Eingriffsmittel der WHO erheblich auszuweiten“ und ihr statt einer nur beratenden Funktion die Möglichkeit zu geben, „dass auf globaler Ebene eine Struktur aufgebaut wird, um Pandemien frühzeitig zu erkennen und über reine Warnungen hinaus erste Maßnahmen einleiten zu können.“

Für Fangerau und Labisch kommt es zudem entscheidend darauf an, dass die Pandemie nach ihrem Abflauen gründlich analysiert und Szenarien entworfen werden, wie die nächste Pandemie von vornherein verhindert werden kann: „Dies betrifft das Gesundheitswesen in materieller und personeller Hinsicht, dies betrifft die zugeordneten Versorgungs- und Fertigungsstrukturen, die auf entsprechende Notfälle eingestellt werden müssen.“ Zwar sei das aufwendig und teuer, aber: „Die Hamburger Bürger etwa haben aus der Choleraepidemie von 1892 gelernt, dass es sich sehr wohl gelohnt hätte, 25 Millionen Mark in eine gute Wasserversorgung zu investieren, anstatt später einen über 400 Millionen Mark teuren Wirtschaftsschaden hinnehmen zu müssen.“ Gute Epidemieprävention lohne sich auch heute, denn die investierten Milliarden seien kein Vergleich zu den „Billionen, die jetzt nötig sind, um das wirtschaftliche Leben nach der Pandemie wiederaufzubauen“ (s. Pharma Fakten).

„Entscheidend sind unsere Werte: Wir haben uns entschieden, jeden Einzelnen zu retten. Handeln wir danach.“ Foto: ©iStock.com/RomeoLu
„Entscheidend sind unsere Werte: Wir haben uns entschieden, jeden Einzelnen zu retten. Handeln wir danach.“ Foto: ©iStock.com/RomeoLu

Vernetzte Wissenschaft

Die Autoren plädieren dafür, alle modernen technischen Möglichkeiten zu nutzen, mit denen Seuchen verhindert oder eingedämmt werden können. Epidemiologische Daten müssen erfasst und ausgewertet werden. Und vor allem: „Testmittel, gegebenenfalls Therapeutika und Impfseren, Hilfsmittel wie Masken und Schutzkleidung, Screening-Verfahren, Krankenhausbetten müssen vorgehalten, das nötige Personal ausgebildet werden.“ Darüber hinaus setzen sich Fangerau und Labisch unter anderem dafür ein, Wissenschaft und Forschung weltweit barriere- und vorurteilsfrei zu vernetzen.

Im Unterschied zu früheren Epidemien haben sich die meisten Länder diesmal dafür entschieden, „dass jedes Leben, ob jung oder alt, ob gesund oder krank, gerettet werden soll“. Das war nicht immer so. Bei der Grippewelle 1958/59 etwa wurden die fast 30.000 Toten in Deutschland eher achselzuckend hingenommen. Heute dagegen gilt: „Entscheidend sind unsere Werte: Wir haben uns entschieden, jeden Einzelnen zu retten. Handeln wir danach.“

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