Die Pandemie ist auch eine der Rekorde: Noch nie standen so schnell Impfstoffe und Arzneimittel zur Verfügung. Doch einiges können wir beim nächsten Mal besser machen  findet Dierk Neugebauer von Bristol Myers Squibb. Foto: ©iStock.com/Gorodenkoff Productions
Die Pandemie ist auch eine der Rekorde: Noch nie standen so schnell Impfstoffe und Arzneimittel zur Verfügung. Doch einiges können wir beim nächsten Mal besser machen findet Dierk Neugebauer von Bristol Myers Squibb. Foto: ©iStock.com/Gorodenkoff Productions

Medizinische Forschung: „Wir sind alle Teil der Lösung“

Die Pandemie ist auch eine der Rekorde: Noch nie standen so schnell Impfstoffe und Arzneimittel zur Verfügung. Andererseits wird auch deutlich: Mit einer besseren Vorbereitung hätten ihre Auswirkungen geringer ausfallen können. Nach der Pandemie ist vor der Pandemie: Was können wir tun, um die nächste globale Gesundheitskrise schneller und erfolgreicher zu bekämpfen? Ein Interview mit Dierk Neugebauer, Mitglied der Geschäftsleitung und Vice President Market Access Deutschland beim forschenden Pharmaunternehmen Bristol Myers Squibb.

Hat die Pandemie die forschende Pharmaindustrie verändert? Und wenn ja, wie?

Dierk Neugebauer: Es ist wahrscheinlich noch zu früh, diese Frage final zu beantworten. Viele Veränderungen werden sich erst in Jahren zeigen. Was man wohl schon heute sagen kann, ist, dass sich das Innovationsmodell der Branche bewährt hat. Das scheinen allerdings nicht alle so zu sehen.

Wie meinen Sie das?

Neugebauer: Leider droht der große Erfolg – nämlich die Entwicklung mehrerer hochwirksamer Impfstoffe in weniger als einem Jahr und das schnelle Hochfahren der Produktion unter Pandemiebedingungen und durch Exportbeschränkungen angespannten Lieferketten – in der Diskussion um die Qualität der Impfkampagne in Deutschland und der Diskussion um Patentfreigaben unterzugehen. Auch in der Entwicklung von Arzneimitteltherapien gegen COVID-19 hat die Branche einiges auf den Weg gebracht – Bristol Myers Squibb selbst forscht gemeinsam mit der Rockefeller University in diesem Bereich. Was auch oft übersehen wird: Die Industrie hat es geschafft, dass trotz Pandemie ihre Lieferketten nicht gerissen sind. Die Versorgung der Patienten konnte trotz „Hamstereffekten“ weitestgehend gesichert werden. Auch das ist ein großer Erfolg.

Auffallend ist, dass im letzten Jahr sehr viele Kooperationen entstanden sind, auch bei Playern, bei denen man das so nicht erwartet hat, weil sie eigentlich Rivalen sind.

Dierk Neugebauer, Bristol Myers Squibb.
Foto: ©BMS
Dierk Neugebauer, Bristol Myers Squibb.
Foto: ©BMS

Neugebauer: Das stimmt. Die Pandemie hat sicherlich das Zusammenspiel von Kooperation und Wettbewerb in der Branche verändert. Auffallend ist, dass viele Start Ups bzw. relativ junge Biotech-Unternehmen in der Impfstoffentwicklung sehr erfolgreich waren. Diese –  bislang eher unbekannten – Firmen kennt heute jeder Zeitungsleser. Diese Unternehmen kooperieren aber auch mit großen, etablierten Pharmaunternehmen. Auch das Hochfahren der Produktion geht nur in Kooperation. Hier mussten die Unternehmen in kürzester Zeit komplexe Netzwerke aufbauen. Laut der Analyse-Firma Airfinity sind weltweit 234 Produktionsvereinbarungen bekannt.

Aber Kooperation ist nur eine Seite der Medaille. Denn die einzelnen Bündnisse stehen untereinander in Konkurrenz. Was für die Hersteller vielleicht herausfordernd ist und mehr Wettbewerb bedeutet, ist für die Welt ein großer Vorteil. Mehr Hersteller bedeutet nämlich mehr Impfstoff und mehr Auswahl.

Für wie wichtig halten Sie Kooperationen in diesem komplexen Umfeld von Spitzenwissenschaft und -forschung?

Neugebauer: Kooperationen waren und sind essenziell, um innovative Grundlagenforschung in wirksame Medikamente zu überführen. Entscheidend ist meines Erachtens die Translation; also die Kooperation zwischen Grundlagenforschung, Universitäten, Start Ups, kleineren Biotechs und etablierten Pharmaunternehmen. Letztere haben die finanziellen und logistischen Ressourcen, um Zulassungsstudien mit großen Patientenzahlen schnell und erfolgreich durchzuführen und neue Wirkstoffe durch die Zulassung zu bringen, um sie  für Patientinnen und Patienten verfügbar machen zu können. Wir alle sind gemeinsam Teil der Lösung. Wir müssen Forschung als System begreifen, als Innovations-Biotop. Oft wird die Diskussion Privatwirtschaft vs. Staat geführt. Oder Grundlagenforschung vs. klinische Forschung. Das „Versus“ muss weg. Man braucht beides für Innovation: gewinnorientierte Privatwirtschaft UND Staat, z.B. in Form universitärer Forschung bzw. Grundlagenforschung UND klinische Forschung.

Vier Monate nach offiziellem Ausrufen der Pandemie ein erstes zugelassenes Medikament; wenig später ein erster Impfstoff: Rekorde. Hintergrund ist, dass man erkennt, dass Zeit der größte Feind in der Pandemie ist. Aber gilt das nicht auch für schwerkranke Patient:innen, die zum Beispiel an einem Krebs leiden? Müssen die Zulassungsprozesse in Europa nicht auf die Überholspur?

Neugebauer: Völlig richtig. Wir dürfen den Kampf gegen Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen – nach wie vor die weltweit häufigsten Todesursachen – nicht aus dem Blick verlieren. Trotz großer Fortschritte in den vergangenen Jahren ist hier der therapeutische Bedarf weiterhin hoch.

Die sorgfältige klinische Prüfung von neuen Wirkstoffen ist ein sehr hohes Gut, um wirksame und verträgliche Medikamente zu gewährleisten. Das Vertrauen der Bevölkerung in den Zulassungsprozess ist sehr wichtig. Wir müssen aber auch anerkennen – und das hat die Diskussion um die Zulassung der Corona-Impfstoffe gezeigt – dass es hier Zielkonflikte gibt, mit denen wir umgehen müssen. Es bestreitet wohl niemand, dass es richtig war, dass die EMA dem Impfstoff von BioNTech am 21.12.2020 eine bedingte Zulassung erteilt hat.

Foto: ©iStock.com/Gorodenkoff Productions
Foto: ©iStock.com/Gorodenkoff Productions

Es gibt bereits viele Bemühungen der Zulassungsbehörden, diesen Zielkonflikten gerecht zu werden und dem durch schnellere Zulassungsverfahren Rechnung zu tragen, z.B. auch auf Basis einarmiger Studien bei besonders hohem medizinischem Bedarf, gerade in der Onkologie. Aber diese Verfahren dürfen nicht dazu führen, dass diese Produkte, die dann entsprechend oft mit geringeren Anforderungen an die Evidenz zugelassen werden, in der Folge in den Nutzenbewertungsverfahren ausgebremst werden. Auch dort müssen diese Zielkonflikte akzeptiert werden. Anwendungsbegleitende Datenerhebungen können hier hilfreich sein. Aber warum nicht auch bestehende Real-World-Evidence – also die Informationen aus dem Versorgungsalltag – stärker akzeptieren wie z.B. Studien zum natürlichen Verlauf einer Erkrankung? Insgesamt brauchen wir mehr Flexibilität.

Müssen wir die Chancen der Digitalisierung nicht stärker nutzen?

Neugebauer: Natürlich – die werden bislang viel zu wenig genutzt. Die Risiken von Datennutzung werden als sehr hoch eingeschätzt im Vergleich zu den Chancen, die sich bieten.

Wie wichtig ist die Digitalisierung heute für Fortschritte in der Medizin?

Neugebauer: Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie wichtig Daten sind. Daten können Leben retten. Deutschland hat hier großen Nachholbedarf. Bundesminister Jens Spahn hat hier schon viel auf den Weg gebracht, aber das kann erst der Anfang sein. Weiterhin unverständlich ist, warum die forschenden Pharmafirmen, die am meisten Geld für Forschung und Entwicklung investieren und die Therapien entwickeln sollen, die Leben verbessern und verlängern, kein eigenes Antragsrecht bei dem geplanten Forschungsdatenzentrum haben. Die Corona-Warn-App und die fehlende Vernetzung der Gesundheitsämter haben wie in einem Brennglas gezeigt, woran es in Deutschland hapert.

Da gilt Israel als leuchtendes Beispiel…

Neugebauer: Israel und Großbritannien. Dort haben wir wichtige Erkenntnisse z.B. über Rest-Ansteckungsgefahr durch Geimpfte und die Auswirkungen auf die Pandemiepolitik gewonnen. In Deutschland wurden diese Daten nicht erhoben. Selbstverständlich müssen wir im Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz klarmachen, dass Datensicherheit und Patientenzentrierung für uns extrem schützenswerte Güter sind. Aber es kann nicht sein, dass wir hier in Deutschland  hinter Ländern wie Dänemark oder Estland stehen.

Im Bereich der Onkologie halte ich beispielsweise die Vision eines zentralen unabhängigen Trustzentrums für überaus interessant. Hier könnten die relevanten Daten von Krebspatienten gesichert werden und prinzipiell Versorgern und forschenden Organisationen zur Verfügung stehen. Datenverfügbarkeit muss endlich als Lösungsansatz für eine bessere Gesundheitsversorgung begriffen werden.

Und für die Entwicklung neuer Medikamente?

Datenverfügbarkeit: Lösungsansatz für eine bessere Gesundheitsversorgung? Foto: CC0 (Stencil)
Datenverfügbarkeit: Lösungsansatz für eine bessere Gesundheitsversorgung? Foto: CC0 (Stencil)

Neugebauer: Big Data ermöglicht uns Fragen zu stellen und Hypothesen zu entwickeln und auf Dinge aufmerksam zu werden. Klar, dass man bei Big Data aufpassen muss, dass man Korrelation nicht mit Kausalität verwechselt. Aber das spricht nicht gegen die Nutzung von Big Data, sondern nur dafür, dies klug und mit Verstand zu tun. Auch der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) spielt eine immer wichtigere Rolle, etwa der Einsatz von lernender Software bei der Beurteilung von Computertomographie-Aufnahmen in der Auswertung klinischer Studien. Erste Ergebnisse aus unseren Studien haben gezeigt, dass die KI-Unterstützung den Klinikern einen frühen Hinweis auf die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Behandlung mit der neuen Generation systemischer Krebstherapien unter Verwendung konventioneller Bildgebungsverfahren liefern könnte.

Was kann die forschende Industrie dazu beitragen, dass uns die nächste Pandemie vorbereitet trifft?

Neugebauer: Ich denke, die forschende Industrie hat gezeigt, dass sie nicht das Nadelöhr bei der Bekämpfung dieser Pandemie war, im Gegenteil. Und ich bin überzeugt, dass sie aufgrund der Erfahrungen während der vergangenen Monate und der jetzt eingespielten Prozesse in Zukunft sogar noch besser und schneller in der Lage sein wird, Lösungen für derartige Herausforderungen zu finden.

Die Pandemie hat auch gezeigt, wie wichtig eine auch wirtschaftlich starke Pharmaindustrie ist. Eine reine Kostendämpfungspolitik im Pharmasektor widerspricht dieser Erkenntnis und kann uns langfristig teuer zu stehen kommen. Dies gilt umso mehr, als die immer wieder an die Wand gemalten Kostenexplosionen – wie beispielsweise 2014 bei der Einführung der neuen Hepatitis-C-Präparate – letztlich nicht eingetreten sind. Fakt ist, dass der Anteil der Arzneimittelausgaben an den GKV-Ausgaben seit mindestens 15 Jahren praktisch konstant ist. Wir haben ein stabiles Gesundheitssystem und das schon seit Jahrzehnten.

Das Mainzer Unternehmen BioNTech hat in der Onkologie geforscht, nun ist die mRNA-Technologie der Durchbruch bei der Impfung gegen Corona. Das zeigt: Innovation geht oft verschlungene Wege. Wenn es darum geht, auch in der nächsten Pandemie schnell neue Impfstoffe und Therapien zu haben, dann sollte auch in pandemiefreien Zeiten das Innovationsökosystem gestärkt werden. Die Pandemie hat gezeigt, dass Arzneimittel und Impfstoffe mehr sind als Kosten. Sie sind Investitionen in Wachstum und Wohlergehen unserer Gesellschaft.

Als Gesellschaft profitieren wir stark, wenn das Corona-Virus besiegt ist. Es bleiben aber noch genug gesundheitliche Herausforderungen, die uns individuell und als Gesellschaft teuer zu stehen kommen; denken wir nur an Krebs, chronische Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Rheuma, Diabetes, Antibiotika-Resistenzen, Alzheimer, seltene Erkrankungen oder die so genannten vernachlässigten Krankheiten. Hier an Arzneimitteln zu sparen wäre der falsche Weg. Die Pandemie zeigt im Brennglas die Bedeutung von Gesundheit – individuell, gesellschaftlich, wirtschaftlich.

Wird die Pandemie Auswirkungen auf das Image der Branche haben?

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Neugebauer: Das glaube ich schon. Die Pandemie hat die Industrie insgesamt im positiven Sinne ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die Reputation der Branche – das haben Untersuchungen wie das Edelman Trust Barometer eindeutig gezeigt – ist durch die großen Erfolge in der Pandemiebekämpfung erheblich gestiegen. Allerdings zeigt die Art und Weise, wie gerade schon wieder die Diskussion um Patente geführt wird, dass es noch viel Informationsbedarf darüber gibt, wie unsere Industrie funktioniert. Es ist wirklich erstaunlich, dass ausgerechnet in dem Moment, in dem die Branche wie vielleicht noch nie ihre Leistungsfähigkeit gezeigt hat, eine zentrale Grundlage dieses Systems – nämlich der Schutz geistigen Eigentums durch Patente – in Frage gestellt wird.

Wir leben in einer Zeit des medizinischen Innovationsbooms. Aber sind wir bei den jetzigen Strukturen überhaupt in der Lage, diese Innovationen möglichst verzögerungsfrei zum Nutzen der Patient:innen einzusetzen?

Neugebauer:  Arzneimittelentwicklung braucht Zeit. Aber wir müssen uns fragen, wie es schneller geht, ohne bei der Sicherheit Abstriche zu machen. Beispiel klinische Studien: Hier dürfen wir nicht den Anschluss verlieren. War Deutschland lange Zeit die weltweite Nummer zwei bei der Durchführung klinischer Studien, steht es derzeit nur noch auf Rang fünf. Notwendig erscheint mir dazu, dass alle beteiligten Stellen noch enger kooperieren, um unter Einhaltung höchster Qualitätsstandards Prozesse zu beschleunigen, damit wir klinische Studien auch bei uns in Deutschland effizienter durchführen können. Aus der Pandemie kann man viele andere Dinge lernen: Mehr Ressourcen bei den Zulassungsbehörden, mehr Beratung, mehr Kooperation, innovative Bewertungsmethoden wie z.B. der Rolling Review – all das kann dabei helfen, um kranken Menschen in Zukunft noch besser und noch schneller helfen zu können. Zeit ist übrigens etwas, das kranke Menschen in der Regel nicht haben. Da müssen wir alle gemeinsam besser werden.

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