Die Klimakrise aus medizinischer Sicht – dazu haben Prof. Dr. Harald Lesch und Dr. Martin Herrmann ein kurzes und absolut lesenswertes Buch geschrieben. Foto: ©iStock.com/sasirin pamai
Die Klimakrise aus medizinischer Sicht – dazu haben Prof. Dr. Harald Lesch und Dr. Martin Herrmann ein kurzes und absolut lesenswertes Buch geschrieben. Foto: ©iStock.com/sasirin pamai

Weshalb die Klimakrise ein medizinischer Notfall ist

Die Klimakrise ist auch eine Gesundheitskrise – weshalb das so ist und was wir dagegen tun können, beschreiben der Wissenschaftsjournalist Prof. Dr. Harald Lesch und der Mediziner Dr. Martin Herrmann in ihrem jüngst erschienenen Buch „Der Sprung über den Abgrund: Warum die Klimakrise uns zum Handeln zwingt“.

Übergewicht, Kreislaufprobleme, deutlich erhöhte Temperatur mit Tendenz zum Fieber: Patientin Erde ist krank. Schwer krank. Und deswegen sollten wir, schreiben Prof. Dr. Harald Lesch und Dr. Martin Herrmann bereits im ersten Absatz ihres Buches, „den Klimawandel und alle seine Folgen als medizinischen Notfall“ behandeln. Was das bedeutet, erklären die beiden ebenso anschaulich wie nachvollziehbar. Schon nach den ersten Kapiteln von „Der Sprung über den Abgrund“ ist klar: Es gibt viel zu tun. Für Wissenschaftler:innen und Mediziner:innen, für Unternehmen und Politiker:innen, für uns alle. Der Appell von Herrmann und Lesch, endlich zu handeln, ist eindringlich und dramatisch, enthält aber auch einen großen Funken Hoffnung. Denn wir müssen nicht nur etwas tun, sondern wir können es auch. Jede und jeder Einzelne. Lesch und Herrmann haben 11 Gespräche geführt, in denen sie unterschiedliche Perspektiven beleuchten. Daraus ist ein rund 120 Seiten kurzes Buch mit kompaktem Hintergrundwissen und konkreten Handlungsempfehlungen entstanden – aufrüttelnd und lesenswert.

„Die Öffentlichkeit verhält sich wie ein Patient, der glaubt, mit ein paar Globuli lässt sich auch ein Tumor behandeln. Hauptsache, man muss nichts an seinem Leben ändern.“ Diese Sätze hörte der bekannte Astrophysiker und Wissenschaftsjournalist Harald Lesch vor einigen Jahren von dem Arzt Martin Herrmann. Es war der Beginn einer Zusammenarbeit, die aus der gemeinsamen Sorge um unseren Planeten entstanden ist – und mit der Überzeugung, dass sich die Welt noch zum Guten verändern lässt.

Lesch fragt, Herrmann antwortet

Patientin Erde ist krank. 
Foto: ©iStock.com/shark_749
Patientin Erde ist krank.
Foto: ©iStock.com/shark_749

Lesch übernimmt über weite Strecken des Buches die Rolle des Fragenden, Herrmann präsentiert Antworten und Handlungsvorschläge (s. Pharma Fakten) – und beide fügen den ersten sechs Kapiteln jeweils noch einige Absätze mit wissenschaftlichen Hintergründen hinzu. So erläutern die beiden Autoren zum Beispiel den Begriff „planetare Gesundheit“ (Planetary Health): Er entstand durch die Übertragung medizinischer Kriterien auf die Situation der Erde – und er bezieht die vielfältigen Wechselwirkungen ein, die zwischen der Gesundheit von Ökosystemen und uns Menschen bestehen. So führt die Klimakrise unter anderem zu Hitzewellen und Überflutungen, die sich direkt auf die Gesundheit auswirken – jede große Hitzewelle verursacht allein in Deutschland Zehntausende von Todesfällen.

Im ersten Gespräch beschreibt Herrmann, wie er vor einigen Jahren mit 14 Mitstreitenden KLUG gegründet hat, die „Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V.“ Eine der ersten Aktionen der Gruppe war im November 2018 eine fünftägige Mahnwache vor der Charité in Berlin: „Da stand nun ein Sanitätszelt mit einer Bahre, darauf lag die kranke Erde – unsere Erde auf der Intensivstation. Mit Rund-um-die-Uhr-Wache.“ Die Resonanz der Medien war bescheiden, aber es ergaben sich interessante Gespräche mit Menschen, die wissen wollten, warum Ärzt:innen und Pflegende in weißen Kitteln die Erde auf einer Notfallliege versorgen. Dabei erfuhren sie: Gemessen an den 4,6 Milliarden Jahren Erdgeschichte sind es jetzt noch 3,5 Sekunden, die bleiben, um „die globale Erwärmung auf 1,5 Grad in Relation zur Zeit vor dem Industriezeitalter einzubremsen.“ Eigentlich ist das viel zu kurz. Aber Notfallteams denken nicht über kurze Zeitfenster nach, sondern sie handeln, schnell, konzentriert und auch dann, wenn es scheinbar aussichtslos ist – und manchmal gelingt es dabei, lebensbedrohliche Blutungen zu stoppen und die Patient:innen ins Leben zurück zu holen.

Klimaneutraler Gesundheitssektor bis 2035

Doch wie könnte das mit der Erde gelingen? Im vergangenen Jahr fand in Glasgow die Klimakonferenz COP26 statt, bei der die Weltgesundheitsorganisation WHO erstmals mit einem eigenen Stand dabei war. Der Mediziner Nick Watts berichtete, wie der englische Gesundheitsdienst NHS bis zum Jahr 2045 klimaneutral werden will. Zeitgleich verabschiedete der Deutsche Ärztetag eine Resolution mit dem Ziel, bis 2035 die Klimaneutralität des deutschen Gesundheitssektors zu erreichen. Für Herrmann einer der ersten Erfolge von KLUG und ein Schritt, der wichtiger ist, als es auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag. Denn der Gesundheitssektor spielt hierzulande eine tragende Rolle, auch als Vorbild für andere Bereiche. Zudem ist nach Herrmanns Erkenntnissen die Medizin „in Deutschland für mehr als 5 Prozent des CO2-Ausstosses verantwortlich.“ Wenn sich im Gesundheitsbereich etwas ändert, dann, so viel steht für Lesch und Herrmann fest, strahlt das auch auf andere Bereiche aus. Und, so Herrmann: „Ich bin sicher, wir können als Vertreter:innen der Gesundheitsberufe eine starke Rolle spielen, weil wir die Menschen ganz anders erreichen, nämlich so, dass sie die kritische Lage auf neue Weise wahrnehmen, dass ihnen klar wird, dass sie selbst schon betroffen sind oder zumindest Menschen in ihrem Umfeld.“

Erster Schritt zu einem klimafreundlichen Planeten: Gesünder leben. 
Foto: ©iStock.com/Chinnapong
Erster Schritt zu einem klimafreundlichen Planeten: Gesünder leben.
Foto: ©iStock.com/Chinnapong

Erste Schritte hin zu einem klimafreundlichen Planeten könnten wir alle bereits tun, wenn wir gängige ärztliche Ratschläge befolgen: Mehr laufen oder Rad fahren und weniger im Auto sitzen, gesünder – und damit fleischärmer – essen, öfter selber kochen und weniger verarbeitete Lebensmittel verzehren. „Wenn wir unseren Lebensstil so verändern, dass wir gesünder leben, hilft das auch dem Planeten“, folgert Lesch. Und Herrmann vergleicht die Situation mit der von schwerkranken Krebspatient:innen, die eine Chemotherapie machen, auch wenn sie unangenehm ist und starke Nebenwirkungen hat. Übertragen auf die Situation des Planeten bedeutet das: „Wir können in der Situation, in der wir uns befinden, nicht nur Maßnahmen durchführen, die keinem weh tun.“

Leider verhielten sich viele Politiker:innen noch immer so wie Ärzt:innen es vor 50 Jahren oftmals bei Aufklärungsgesprächen taten: „Die Wahrheit, dachte man damals, sei dem Patienten nicht zumutbar.“

Gegen die Klimakrise: Vor Ort aktiv werden

Die Wahrheit ist: Es gibt Kipppunkte, von denen aus es kein Zurück gibt – dann lässt sich der Anstieg des Meeresspiegels oder der Temperatur nicht mehr aufhalten. Herrmann fordert deshalb eine „schonungslose Kommunikation: Wir müssen schneller aus der Kohleverstromung raus, weg vom Verbrennungsmotor, wir brauchen Preise, die auch die externalisierten Kosten berücksichtigen, zum Beispiel in der Landwirtschaft.“ Kurzum: Wir müssen uns selbst und unser Verhalten grundlegend ändern, „Neues entwickeln und gestalten“, andere Spielregeln einführen und umsetzen. Dazu können wir alle beitragen, etwa durch unser Konsumverhalten, durch Gespräche, die wir führen, und durch Veränderungen, die wir in unserem direkten Umfeld vornehmen. „Am Ende findet Umsetzung immer in lokalen Kontexten statt“, erklärt Herrmann und plädiert dafür, vor Ort und in der eigenen Nachbarschaft aktiv zu werden. Transformation kann am Stammtisch ihren Anfang nehmen, in der Schule, in der Hausarztpraxis. Dann können „soziale Kipppunkte“ entstehen, die positive Veränderungen nach sich ziehen: „Jeder Sektor, jede Gruppe, jeder Mensch kann entdecken, wo und wann, gemeinsam mit wem, etwas angestoßen werden kann. Jeder Mensch ist begabt, kreativ zu handeln und Unerwartetes zu erreichen.“ Herrmann berichtet von wissenschaftlichen Untersuchungen, die zeigen: 3,5 Prozent der Bevölkerung eines Landes oder einer anderen Gruppe können den Anstoß geben, um ein System grundlegend zu verändern, auch zum Positiven.

Foto: ©iStock.com/Blue Planet Studio
Foto: ©iStock.com/Blue Planet Studio

Lesch und Herrmann wollten am Ende ihres Buches eigentlich ein optimistisches Fazit ziehen, getragen von der Überzeugung, „dass in den nächsten 10, 15 Jahren ganz große Dinge gelingen können.“ Doch dann begann kurz vor Drucklegung der Ukrainekrieg. Für die beiden Autoren konnte es deshalb „nur ein Fazit geben: Wir müssen alle zusammenstehen gegen diese Zerstörung der Grundlagen unserer Zivilisation…Russland verdient viele Milliarden Euro mit dem Export von fossilen Ressourcen. Das muss so schnell wie möglich gestoppt werden. Die erneuerbaren Energien werden jetzt auch die Energiequellen unserer Freiheit sein. Nun können wir zeigen, dass wir wirklich verstanden haben, worum es geht! Das wird nicht einfach, das wird teuer, aber es wird sich lohnen.“

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