Prof. Judith Haas  Vorsitzende der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft  fordert eine bessere Versorgung für MS-Patienten. Sie hofft auf weitere Therapiedurchbrüche  um Nervenzellen künftig heilbar zu machen. Foto: © DMSG
Prof. Judith Haas Vorsitzende der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft fordert eine bessere Versorgung für MS-Patienten. Sie hofft auf weitere Therapiedurchbrüche um Nervenzellen künftig heilbar zu machen. Foto: © DMSG

Zu wenige Therapien, um MS-Symptome zu behandeln

Die Behandlung von Multipler Sklerose (MS) hat in den vergangenen Jahren durch die Entwicklung neuer Wirkstoffe große Fortschritte gemacht. Es fehlt jedoch gerade bei der Therapie von Symptomen an Medikamenten, sagt Prof. Judith Haas, Ärztliche Leiterin des Zentrums für Multiple Sklerose am Jüdischen Krankenhaus in Berlin. Die Vorsitzende der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) spricht mit Pharma Fakten über Schwierigkeiten bei der Behandlung der Krankheit und die Hoffnung auf einen Wirkstoff, der durch MS geschädigte Nervenzellen reparieren könnte.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Therapiemöglichkeiten bei Multipler Sklerose (MS)?

Prof. Judith Haas: Wir haben in den vergangenen 20 Jahren unglaubliche Fortschritte gemacht. Es wurden bisher sehr wirksame Medikamente gegen die schubförmige Multiple Sklerose entwickelt, insbesondere sind seit 2006 mit Natalizumab, Fingolimod Alemtuzumab – und bald auch mit Ocrelizumab – sehr hoffnungsvolle Therapieoptionen für die hochaktive MS auf dem Markt. Bei 80 bis 90 Prozent der Patienten verläuft die Multiple Sklerose zunächst schubförmig und geht nach 20 Jahren in eine fortschreitende Behinderung ohne Schübe über. Die fortschreitende Behinderung ohne erkennbare Schübe war bisher nicht therapierbar. Ocrelizumab ist das erste Medikament, das bei der von Anbeginn an fortschreitenden MS Wirksamkeit gezeigt hat. Das kann man schon als Meilenstein betrachten.

Die Ursachen der Krankheit sind noch nicht vollständig geklärt. Wo liegen die Schwierigkeiten bei der MS-Behandlung?

Prof. Haas: Trotz großer Forschungsbemühungen wissen wir noch sehr wenig über die Krankheit. Es gibt viele Vermutungen wie zum Beispiel genetische Faktoren, Umweltfaktoren wie zu wenig UV-Strahlung, Vitamin-D-Mangel oder Übergewicht. Ebenso könnten Virusinfektionen in früher Kindheit zum Ausbruch der Krankheit beitragen. In diesem Zusammenhang wird gerade das Pfeiffersche Drüsenfieber genannt.

Die Schwierigkeiten der Behandlung liegen darin, dass der Verlauf der Erkrankung schwer vorherzusagen ist. Es gibt leider keine guten laborchemischen Marker, die anzeigen, welche Therapie für welchen Patienten wirksam ist. Ein zweites Problem: Es kommt im Laufe der Erkrankung zunehmend zu degenerativen Veränderungen. Wir verstehen allerdings bisher noch nicht wirklich, warum die MS in ihrem Verlauf von der entzündlichen in die degenerative Form umschlägt. Aufgrund der Wirksamkeit von Ocrelizumab spricht vieles dafür, dass  Entzündungsvorgänge auch in dieser Phase eine Rolle spielen, aber das ist noch nicht genau erforscht.

Ein weiterer Punkt ist, dass es zu wenig Therapien gibt, um die Symptome zu behandeln. Es sind zwar durchaus Therapiemöglichkeiten vorhanden, doch dabei handelt es sich um Medikamente, die nicht für MS zugelassen sind. Sie werden somit nicht von den Kassen erstattet. Ein gutes Beispiel ist Botulinumtoxin, das zur Behandlung von Spastiken eingesetzt werden könnte. Wir wissen, dass die Therapien wirken, aber wir können sie nicht einsetzen. Es müsste mehr Studien in diese Richtung geben, auch zum Erschöpfungssyndrom Fatigue, das bei 80 Prozent der Patienten auftritt und die Lebensqualität massiv beeinträchtigen kann.

Welche Art von Wirkstoff braucht die MS-Therapie?

Prof. Haas: Es braucht einen Wirkstoff, der die Reparation im Nervensystem begünstigt. Wir möchten, dass sich nach einem Schub die Funktionsstörungen zurückbilden. Wir brauchen Substanzen, die eine Remyelinisierung herbeiführen. Das bedeutet, dass die geschädigten Nerven wieder repariert werden.

Ist eine solche Wiederherstellung der Nerven möglich?

Prof. Haas: Wir sehen hier Licht am Ende des Tunnels. Es gibt Studien, die in Phase I und Phase II erstaunliche Ergebnisse geliefert haben. Einige bisher allerdings nur in Tierversuchen. Ich bin zuversichtlich, dass in drei bis fünf Jahren ein solcher Wirkstoff auf dem Markt sein könnte. Eine spannende Frage ist allerdings, ob auch die untergegangenen Nervenfasern wieder regenerieren.

Welche Therapiefortschritte können wir künftig erwarten?

Prof. Haas: Wir hoffen auf mehr Substanzen, die die schleichend fortschreitende Multiple Sklerose aufhalten. Darüber hinaus wird uns zukünftig ein großes Spektrum an Immuntherapien zur Verfügung stehen. Um sie einsetzen zu können, laufen weltweit zahlreiche Studien.

Das jetzt vorgestellte Weißbuch Multiple Sklerose sieht Handlungsbedarf bei der Versorgung der Patienten. Wie kann man sie verbessern?

Prof. Haas: In den Ballungszentren sind die Patienten vergleichsweise sehr gut versorgt, schwierig wird es in ländlichen Regionen. Dort kann man schon von Unterversorgung sprechen. Hier müssten die Strukturen verbessert werden. Es müsste aber generell mehr Kompetenzzentren geben, die alles abdecken – auch die sozialmedizinische und psychotherapeutische Versorgung.

Wir müssen aber auch das Bewusstsein bei den Ärzten schärfen, dass nach einem ersten Schub früh behandelt wird. Zwischen dem Auftreten der ersten Symptome bis zur Erstdiagnose liegen heutzutage noch zwei Jahre. Vor 20 Jahren waren es noch vier Jahre. Selbst Patienten, bei denen die MS früh diagnostiziert wurde, bekommen  aber nicht sofort die Möglichkeit einer vorbeugenden Immuntherapie. Die nicht spezialisierten  Ärzte warten erst einmal ab. Und hier liegt das Problem. Ein früher Therapiebeginn ist aber bei MS sehr wichtig.

Foto: DMSG

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