„Conditional Approvals“ werden unter strengen Auflagen erteilt  um Patienten  die an schweren Erkrankungen leiden und für die es keine geeignete Behandlung gibt  früheren Zugang zu neuen Arzneimitteln zu ermöglichen. Foto: © iStock.com/fizkes
„Conditional Approvals“ werden unter strengen Auflagen erteilt um Patienten die an schweren Erkrankungen leiden und für die es keine geeignete Behandlung gibt früheren Zugang zu neuen Arzneimitteln zu ermöglichen. Foto: © iStock.com/fizkes

Neuauflage einer alten Leier: Die Deutschen zahlen zu viel für Medikamente

Eine gesetzliche Regelung soll schuld sein, dass die Deutschen von allen EU-Bürgern am meisten für Medikamente zahlen, heißt es in einer gemeinsamen Recherche-Anstrengung von Handelsblatt und der ARD-Redaktion Plusminus. Doch in dem Artikel wird so einiges durcheinandergeworfen. Einen Faktencheck besteht er zumindest nicht.

Ja, das dürfte stimmen: In Schweden ist das im Artikel von Handelsblatt/Plusminus genannte Medikament gegen Multiple Sklerose billiger als in Deutschland. Ob es allerdings die am Anfang des Artikels genannten 3.000 Euro oder die am Ende erwähnten 2.000 Euro für eine viermonatige Versorgung sind, ist fraglich. Denn für neun von zehn in Deutschland krankenversicherten Menschen gilt: Sie sind anders als das im Artikel gewählte Beispiel nicht privat, sondern gesetzlich versichert. Für die aber gelten Rabatte. Und auch die in dem Artikel erwähnte Preiserhöhung kann zumindest für GKV-Versicherte nicht wirksam werden, denn mit dem Stichtag 1. August 2009 sind diese de facto nicht möglich – Stichwort Preismoratorium . Alles in allem dürfte der Preisunterschied damit deutlich zusammenschmelzen.

Aber gut, immer noch teurer, wird der Pharmakritiker anmerken. Die Frage aber ist: Wem nutzen diese Einzelbeispiele? Genauso könnte man darauf hinweisen, dass das MS-Medikament Gilenya in Deutschland um 25,8 Prozent günstiger ist als in den Niederlanden. Oder auf das Krebsmedikament Jakavi – es ist rund 21 Prozent günstiger als in den Niederlanden. Dies geht aus dem Arzneiverordnungsreport 2015 hervor.  Das passt allerdings – zugegeben – nicht zur Überschrift des Artikels.

Florian Martius / © Pharma Fakten
Florian Martius / © Pharma Fakten

Deutschland zahlt immer die höchsten Preise? Ein Märchen

Denn anders als in dem Artikel suggeriert, ist nicht grundsätzlich jedes Medikament in Deutschland teurer als im Rest Europas. Um das Märchen des braven deutschen Beitragszahlers als Gemolkener der Pharmaindustrie zu widerlegen, lohnt sich der Blick auf eine Untersuchung aus dem Jahr 2016: Bei rund 94 Prozent der Präparate lag der deutsche AMNOG-Erstattungspreis unter dem höchsten Listenpreis in Europa. Den durchschnittlichen europäischen Listenpreis unterschreiten mehr als 75 Prozent und den minimalen noch 30 Prozent. Die Zahlen stehen für das ökonomische Paradox, dass in einem der wirtschaftlich stärksten Länder teilweise die niedrigsten Preise in Europa bezahlt werden.*

Seit Einführung des Nutzenbewertungsverfahrens AMNOG im Jahr 2011 ist die Liste von Medikamenten, die im europäischen Ausland teurer sind, lang geworden. Denn das AMNOG hat für ein hierzulande bisher unbekanntes Phänomen gesorgt: Dass Medikamente, die eigentlich für den deutschen Markt vorgesehen sind, immer öfter ihren Weg in andere Länder finden. Diesen Job erledigen Parallel-Händler, die ausschließlich davon leben, dass es Preisunterschiede gibt: Solange diese nicht Verfechter von wirtschaftlichem Selbstmord sind, müssen wir davon ausgehen, dass sie Medikamente nur aus Deutschland ausführen, wenn sie sie woanders teurer verkaufen können – wenn also nicht nur die Listen-, sondern auch die Nettopreise günstiger sind. Nur nebenbei sei erwähnt, dass dies auch zu Lieferengpässen für Patienten in Deutschland bei wichtigen Medikamenten führen kann.

Etwas eintönig wirkt mittlerweile der Ritus, dass in solchen Artikeln Krankenkassenfunktionäre den Untergang des GKV-Abendlandes ankündigen dürfen, ohne dass die Zahlen hinterfragt werden. Hier ein paar Beispiele:

  • Da ist das „erschreckende Ergebnis“, dass die GKV bald 40 Milliarden Euro für Arzneimittel ausgeben könnte. Sollten die Kassandrarufe vom GKV-Untergang ungehört verhallen, könnte es daran liegen, dass der Grad der Empörung sich diametral zu den Fakten verhält: Der Anteil der Arzneimittel an den Gesamtausgaben der GKV stagniert seit Jahrzehnten: Er lag 1970 bei 17,7 Prozent und 2017 bei 16,8 Prozent. (Kurz vor der Weltmeisterschaft bietet sich folgendes Bild an: Zu Zeiten von Gerd Müller lag er höher als zu Zeiten von Thomas Müller). Das sind übrigens die Ausgaben für den gesamten Arzneimittelbereich – also inklusive der Margen für Apotheken und Großhandel sowie der Mehrwertsteuer. Warum fragt man auch ausgerechnet einen Kassenwart, ob er etwas teuer findet, wo es doch sein Job ist, das Geld zusammenzuhalten? 
  • „Insbesondere Krebsmittel treiben die Kostenspirale“, heißt es weiter. Die Begründung liefern die Autoren gleich mit: „… sie machen mittlerweile ein Drittel aller neu zugelassenen Mittel aus.“ Was hier wie eine Hiobsbotschaft á la Lord Voldemort überbracht wird, liest sich eigentlich so: Bei der Bekämpfung von Krebs werden wir immer besser. In der Onkologie findet ein beispielloser Innovationsschub statt. Die GKV investiert rund 13 Prozent ihrer Arzneimittelausgaben in Krebsmedikamente – für die zweithäufigste Todesursache in Deutschland. Eigentlich wenig, oder?
  • Wenig weiterführend ist auch die Krankenkassenklage, „dass sich die Umsätze [von neuen Medikamenten] im Jahr nach der Markteinführung ´fast verfünffacht` hätten.“ Das klingt hochdramatisch. Es könnte aber daran liegen, dass die Umsätze im ersten Jahr meist gering sind. Auf jeden Fall hat die Zahl ohne einen Vergleichsmaßstab keinen Aussagewert (Ein Ökonom, den ich dazu befragte, sagte mir: „Das ist sehr lustig“). Und auch hier gilt: Was für den Kassenwart ein Gräuel ist, könnte für die betroffenen Patienten eine sehr gute Nachricht sein, nämlich ein neues Medikament, das die Behandlung einer Krankheit deutlich verbessert oder überhaupt erst möglich macht (wie bei Medikamenten gegen seltene Erkrankungen, den so genannten Orphan Drugs.)
  • Natürlich fehlt in einem solchen Artikel nicht der Hinweis, dass die meisten neuen Medikamente gar nicht besser seien als die vorhandenen – sie „schaden dem Patienten“, wie es pauschal in der Einleitung heißt. Dabei heißt ein nicht belegter Zusatznutzen ja nicht, dass sie keinen Nutzen haben – denn der ist durch die Zulassung belegt. Daraus einen Schaden zu machen, ist schon relativ mutig. Auch bleibt unerwähnt, dass es seit Jahren Streit um die Methodik gibt, dass medizinische Fachgesellschaften die AMNOG-Bewertung oft kritisieren (Die Stellungnahmen der Wissenschaft weichen in drei von vier Fällen von den Bewertungen des IQWiG ab!). Weshalb niemanden überrascht, dass die Nutzenbewertungsbeschlüsse oft gar nicht 1:1 in den Praxisalltag übertragbar sind. Auch darauf haben bereits Ärzte- und Patientenverbände aufmerksam gemacht.

Doch nun zu der gesetzlichen Regelung, die laut Handelsblatt/Plusminus all diese „Abzocke“ möglich macht. Angeblich liegt das daran, dass ein pharmazeutischer Unternehmer den Preis seines neuen Produktes bei Markteinführung selber bestimmen darf. Dies ist in Deutschland für neu entwickelte Medikamente immerhin noch für die ersten zwölf Monate möglich – bis die Nutzenbewertung abgeschlossen und zwischen Hersteller und dem Spitzenverband der Krankenkassen ein Erstattungspreis verhandelt ist. Seit Jahren sind den Kassen diese zwölf Monate ein Dorn im Auge; sie wollen, dass der verhandelte Preis rückwirkend abgerechnet wird. Nach vorsichtigen Schätzungen würde dies rund 120 Millionen Euro pro Jahr einsparen – also rund 0,3 Prozent der Arzneimittelausgaben der GKV pro Jahr. Unterm Strich aber wäre es ein teures Unterfangen – denn es könnte die Einführung neuer Medikamente verzögern: Die volle Erstattung eines neu zugelassenen Medikaments vom ersten Tag der Zulassung an gilt als Garant dafür, dass in Deutschland diese Medikamente den Patienten besonders schnell zur Verfügung stehen. Ein Vorteil, um den uns in Europa viele beneiden.

Eine Frage wurde übrigens meines Wissens einem Kassenvertreter „vor laufender Kamera“ noch nie gestellt: Warum regen die sich eigentlich über Preise auf, die sie selbst verhandelt haben?

* AMNOG-Check 2017: Gesundheitsökonomische Analysen der Versorgung mit Arzneimittel-Innovationen
Schwerpunktthema: Gefährdungsmomente der GKV-Versorgung bei AMNOG-Präparaten. Gutachten
für den Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. (BPI) von Prof. Dr. Dieter Cassel, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr. Volker Ulrich, Universität Bayreuth. 31. Juli 2017, S. 47 f.

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