Das System der Nutzenbewertung neuer Arzneimittel hat noch viel zu lernen. Sonst bleiben die Patienten auf der Strecke. Foto: ©iStock.com/2017 Robert Gerhardt (RGtimeline)
Das System der Nutzenbewertung neuer Arzneimittel hat noch viel zu lernen. Sonst bleiben die Patienten auf der Strecke. Foto: ©iStock.com/2017 Robert Gerhardt (RGtimeline)

AMNOG-Daten 2018: Ökonomen mahnen Reformen an

Gesundheitspolitik gilt landein landaus nicht gerade als das spannendste aller Themen; man könnte auch sagen: Gesundheitspolitik ist schlicht „unsexy“. Deshalb finden die Debatten darüber vor allem in kleinen, spezialisierten Zirkeln statt. Ob das sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt. Denn hier werden u. a. die Weichen für Behandlungsstandards gestellt – und das dürfte den meisten Menschen spätestens, wenn sie krank werden, nicht mehr egal sein. Ein Beispiel? Das AMNOG, das 2011 eingeführt wurde.

AMNOG? Kann man das essen?“ Wer in Deutschlands Fußgängerzonen nach der Abkürzung für Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz fragt, den erwarten solche oder ähnliche Antworten. Dabei ist im deutschen Arzneimittelmarkt vieles, seitdem es im Jahr 2011 scharf gestellt wurde, nicht mehr so, wie es vorher war. Das AMNOG ist eine Zäsur, wie in Deutschland Arzneimittelinnovationen eingeführt, bewertet und erstattet werden. Oder in den Worten des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI): Es ist ein Gesetz, das „auf Kosten der Versorgung der Patienten mit innovativen Arzneimitteln geht.“ Und damit dürfte klar sein, dass über die Folgen des Gesetzes nicht nur spezialisierte Zirkel diskutieren sollten: Das AMNOG geht alle an. 

Wie schon in den Jahren zuvor begleitet der BPI die Effekte des AMNOG und hat mit „AMNOG-Daten 2018“ eine Bewertung der ersten sieben Jahre vorgelegt. Autoren sind die Gesundheitsökonomen Prof. Dr. Dieter Cassel, Universität Duisburg-Essen und Prof. Dr. Volker Ulrich, Universität Bayreuth. Für sie ist das AMNOG eine „bemerkenswerte Pharmawende in der Preisregulierung auf dem deutschen Arzneimittelmarkt“.

Das muss per se nicht schlecht sein. Denn von der Idee her ist das AMNOG auf den ersten Blick bestechend. Es will – so klingt das bei Gesundheitsökonomen – „dem ökonomischen Prinzip ´Money for Value` bzw. ´Pay for Performance` in der GKV-Versorgung mit neuen Arzneimitteln Geltung […] verschaffen.“ Die Höhe des Preises einer Arzneimittelinnovation soll sich nach dem Ausmaß des von ihr gestifteten (Zusatz-)Nutzens richten. Die Frage, die das AMNOG stellt, lautet: Was kann ein neues Medikament mehr als eines, das für die Behandlung schon verfügbar ist? Der Grad des festgestellten Zusatznutzens soll im nächsten Schritt bei den Preisverhandlungen die Richtung vorgeben. Nur wenn das Medikament einen höheren Nutzen zeigt, darf es mehr kosten als bestehende Therapien. Aber auch beim AMNOG ist es wie im richtigen Leben: Zwischen einer Idee und ihrer Umsetzung können sich Gräben auftun.

Das AMNOG im Jahr 2018: Geburtsfehler und Lernschwächen 

Wahrscheinlich klingt das immer noch wenig spannend? Aber nach sieben Jahren AMNOG erhärten sich die Anzeichen, dass „das AMNOG […] eine Reihe von Geburtsfehlern und Lernschwächen“ hat, die weder behoben wurden, geschweige denn es auf die Reformagenda des Bundesgesundheitsministeriums geschafft haben. Cassel und Ulrich sehen „inzwischen Anzeichen dafür, dass das AMNOG als ´Versorgungshürde`“ wirkt, indem die Verfügbarkeit neuer Medikamente hierzulande zurückgeht und verfügbare Innovationen nur unzureichend beim Patienten ankommen.“

Cassel und Ulrich haben einige Fakten zusammengetragen, die aufhören lassen sollten: Denn schaut man sich die Ergebnisse der Nutzenbewertung auf der Ebene der Teilpopulationen an, fällt auf, dass bei rund 60 Prozent der Medikamente kein Zusatznutzen feststellbar sein soll. Das ist Wasser auf die Mühlen derer, die meinen, dass es mit dem Innovationsgrad der forschenden Pharmaunternehmen eh nicht weit her ist. Für die Gesundheitsökonomen Cassel und Ulrich ist diese Zahl aber allein vor dem Hintergrund befremdlich, dass eben diese Arzneimittel bereits im Zulassungsverfahren ihre indikationsspezifische Wirksamkeit und ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis erwiesen haben und teilweise im Ausland positiver als hierzulande bewertet werden. Aber so einfach ist es nicht: Denn bloß, weil „kein Zusatznutzen“ drauf steht; sprich: er nicht oder noch nicht feststellbar ist, heißt das noch lange nicht, dass es ihn nicht gibt.

  • Es ist eine Besonderheit des AMNOG, dass das Urteil „Kein Zusatznutzen“ oder „kein Zusatznutzen nachgewiesen“ in den allermeisten Fällen nicht auf Grundlage einer Bewertung, sondern auf Basis einer Nichtbewertung fällt. In 84 Prozent der Fälle galt: Aus methodischen Gründen wurde eine Nutzenbewertung gar nicht durchgeführt – etwa, weil man sich über die Bewertung der Daten nicht einig war oder über das „richtige“ Studiendesign oder die Sinnhaftigkeit der Vergleichstherapie stritt. „Deshalb ist zu beachten, dass ´kein Zusatznutzen` nicht heißt, dass einige der so gekennzeichneten Wirkstoffe oder Präparate tatsächlich nicht doch einen Zusatznutzen haben können, der testiert worden wäre, wenn sie der G-BA inhaltlich bewertet hätte. In diesen Fällen kommt es also zu ´falsch negativen Bewertungen`“, schreiben Cassel und Ulrich.
  • Überraschend ist, dass man bei der Bewertung des medizinisch-therapeutischen Zusatznutzens eines Wirkstoffs trotz desselben Dossiers, derselben Vergleichstherapie und derselben Rechtsgrundlagen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann. Die Differenzen darüber gehen quer durch das System: So liegen das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) als prüfendes Organ und der letztlich entscheidende Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bei der Bewertung ein und desselben Dossiers oft auseinander. Der G-BA etwa ist seit 2011 bei rund 39 Prozent der Fälle von den Einschätzungen des IQWiG abgewichen. Das liegt daran, dass die Entscheidung über den Zusatznutzen eines Medikamentes immer auch eine Wertentscheidung ist. So kann es für einen Patienten durchaus einen Zusatznutzen haben – etwa, wenn ein anderes, auf dem Papier deutlich besseres bei ihm gar nicht anspricht: Medizin ist eben keine Mathematik.
  • Auch medizinische Fachgesellschaften widersprechen immer wieder den Beurteilungen der AMNOG-Organe. „Sie geben ein beredtes Zeugnis dafür, dass man dieselben bewertungsrelevanten Sachverhalte durchaus unterschiedlich interpretieren kann und von daher die Bewertungsbeschlüsse des G-BA nicht unkritisch hinnehmen sollte“, heißt es dazu in „AMNOG-Daten 2018“.
  • Eine Studie hat sich die Mühe gemacht und die Nutzenbewertungen in verschiedenen Ländern einer vergleichenden Analyse unterzogen. Auch hier ein ähnliches Bild: Denn die Organe unterscheiden sich z. B. darin, welche Vergleichstherapien sie auswählen, welche Studienendpunkte sie bestimmen, ob sie Surrogatparameter akzeptieren oder wie sie verfahren, wenn die bestmögliche Evidenz nicht mit der besten Evidenz übereinstimmt. Das Ergebnis: Der G-BA ist strenger als andere. „Unsere Studie zeigt, dass der G-BA dazu neigt, strikter zu bewerten als NICE“, so die Autoren. Der Vergleich mit dem britischen Gesundheitssystem zeigt zumindest eines: Es gibt in der Bewertung von neuen Medikamenten keine absoluten Wahrheiten. 

Von den insgesamt 171 Präparaten mit abgeschlossener Nutzenbewertung und Preisfindung (Stand: 31.12.2017) sind mittlerweile 27 Präparate vom Markt verschwunden. Auch sehen Cassel/Ulrich Hinweise darauf, dass sich das AMNOG zur „Markteintrittshürde“ entwickelt, weil zahlreiche Produkte, seitdem es das Gesetz gibt, gar nicht erst eingeführt wurden. Die Verfügbarkeitsquote der von der europäischen Zulassungsbehörde EMA zugelassenen und in Deutschland erhältlichen Medikamente – in der Vor-AMNOG-Zeit satte 98,5 Prozent – liegt heute bei 72 Prozent, schreiben die Autoren.

Geburtsfehler Kostenfixierung?

„Das AMNOG schafft eine faire Balance zwischen Innovation und Bezahlbarkeit von Medikamenten“, heißt es beim Bundesgesundheitsministerium. Doch im achten Jahr häufen sich die Hinweise, dass diese Balance nicht erreicht ist. Die AMNOG-Verhandlungen um ein neues Medikament sehen Cassel und Ulrich durch einen „schwer lösbaren Interessenkonflikt“ belastet:  „Während die Kassenseite eine innovative und qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung zu Tiefstpreisen verlangt, erwartet die Industrie, dass sie in aller Regel nicht nur die Produktions- und Vertriebskosten, sondern auch die Forschungs- und Entwicklungsleistungen ihrer Innovationen über Preise und Verschreibungsmengen bis zum Ablauf des Patentschutzes wieder hereinholen kann.“ Die ursprünglichen Ziele – u. a. die Versorgung der Patienten mit den wirksamsten und fortschrittlichsten Arzneimitteln – sehen die beiden gefährdet. Deshalb mahnen sie weitere Reformschritte an, „um dem AMNOG zu dem Erfolg zu verhelfen, den es verdient.“

Weiterführende Links:

https://pharma-fakten.de/schlagworte/schlagwort/amnog/

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