In der Digitalisierung des Gesundheitswesens steckt großes Potenzial. Deutschland hat in Sachen Digital Health Nachholbedarf.
In der Digitalisierung des Gesundheitswesens steckt großes Potenzial. Deutschland hat in Sachen Digital Health Nachholbedarf.

Digital Health: In Deutschland geht noch was

Keine guten Noten für das deutsche Gesundheitswesen: Wie die Bertelsmann-Stiftung herausgefunden hat, kommt der digitale Wandel in der Gesundheit in Deutschland nur schleppend voran. Von 17 untersuchten Ländern belegt das Land nur Platz 16.

Das hat schon was: Während viele Menschen die Sorge vor der Digitalisierung im Gesundheitswesen umtreibt – Stichwort Datensicherheit – werden in Deutschland Patientendaten immer noch gerne per Fax ausgetauscht. 80 Prozent der Ärzte, das ergab eine Umfrage von CompuGroup Medical und Springer Medizin Verlag, senden ihre Arztbriefe an niedergelassene Kollegen per Fax. Und das, obwohl das Relikt aus analogen Zeiten anfällig für Hackerangriffe ist und zahlreiche Sicherheitslücken aufweist.

Faxgerät, Foto: CC0 (Stencil)
Faxgerät, Foto: CC0 (Stencil)

Für die Jüngeren unter uns: Ein Fax (Kurzform von Telefax, auch Fernkopie genannt) ist laut Wikipedia „die Übertragung eines oder mehrerer Dokumente in Form eines in Linien und Pixel gerasterten Bildes über das Telefonnetz oder per Funk“. Zur Verbannung des Faxgerätes aus der Medizin hat sich erst kürzlich die Initiative „faxendicke“ gegründet: Sie will „über Risiken und Folgen von Datenverlust durch Faxgeräte aufklären. Ziel ist es, das Fax als Standard-Medium in der Medizin abzulösen und durch sichere, digitale Lösungen zu ersetzen“, heißt es in der Pressemitteilung.

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen gilt Vielen als ein wichtiger Motor für mehr Effizienz im Gesundheitswesen. Was abstrakt klingt, kann für Patienten viele Vorteile haben. Denn mehr Effizienz bedeutet nicht nur „Geld sparen“. Es kann auch „bessere Medizin“ heißen. Tatsache ist:

  • Wer in Gegenden wohnt, in denen Ärzte Mangelware sind, bewertet die Telemedizin wahrscheinlich positiver als ein Großstädter, der sich vor einem Angebot an Arztpraxen nicht retten kann.
  • Wer mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen muss, sieht in elektronischen Patientenakten und Medikationsplänen vielleicht weniger ein Problem der Datensicherheit, sondern die Chance, gefährliche Nebenwirkungen und Interaktionen vermeiden zu können.
  • Wenn die Digitalisierung eine Chance ist, Bürokratie abzubauen und Mehrfach-Behandlungen zu vermeiden, dann haben Ärzte vielleicht wieder mehr Zeit für ihre Patienten.
  • Wenn Anwendungen der Künstlichen Intelligenz (KI) die Diagnose komplexer Erkrankungen erleichtern und beschleunigen, gilt dasselbe: Ärzte haben mehr Zeit für die Erarbeitung einer Therapiestrategie.
  • Auch chronisch Kranke können profitieren: Digitale Gesundheitsanwendungen können das Selbstmanagement verbessern helfen. Deshalb engagieren sich Pharmaunternehmen in Konzepten „Beyond the Pill“: Studien haben z.B. gezeigt, dass ein begleitendes Online-Therapieprogramm die Behandlungsergebnisse bei unter Depressionen leidenden Menschen verbessern kann (s. Pharma Fakten).
  • Auch Menschen mit seltenen Erkrankungen können profitieren. Denn durch die Zusammenlegung von Datenbanken und dem Poolen von Wissen können Standardtherapien erarbeitet und verfeinert werden (s. die Pharma Fakten-Geschichte über das Projekt HARMONY).

Doch Deutschland läuft dem Wandel hinterher. Das zeigt die Studie der Bertelsmann-Stiftung „#SmartHealthSystems“ zum Stand der Digitalisierung im internationalen Vergleich. Deutschland schafft mit einem Digital Health-Index von 30 gerade noch den vorletzten Platz (s. Grafik). Ganz oben auf dem Treppchen steht das kleine Estland – mit einem Wert von 81,9. Zur Spitzengruppe gehören Kanada, Dänemark, Israel und Spanien. Der Digital Health-Index ergibt sich aus 34 Indikatoren zu Strategie, technische Voraussetzungen, digitalem Reifegrad und tatsächlichem vernetzten Gesundheitsdatenaustausch. Maximal ein Wert von 100 kann erreicht werden. Überraschend ist weniger die Tatsache, dass Deutschland hinterherläuft – es deckt sich mit dem „gefühlten“ Digitalisierungsgrad. Überraschend ist aber, wie sehr das Land hinterherläuft: „Während Deutschland noch Informationen auf Papier austauscht und an den Grundlagen der digitalen Vernetzung arbeitet, gehen andere Länder schon die nächsten Schritte,” kommentiert Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, die Ergebnisse.

Was unterscheidet die digitalen Top-Performer von den Nachläufern? Viele digitale Anwendungen sind dort heute Teil des Alltags: E-Rezept, elektronische Patientenakten, Medikationspläne oder Impfdaten, nationale Gesundheitsportale – das ist digitale Realität in Ländern wie Estland. Dort sind alle Ärzte, Kliniken und Apotheken an das nationale Netzwerk für den Austausch von Gesundheitsdaten angeschlossen. Über das Gesundheitsinformationsportal digilugu.ee kann seit 2009 jeder Bürger seine persönlichen Gesundheitsdaten einsehen, sich über Krankheiten informieren oder Termine bei niedergelassenen Ärzten online buchen.

Israel setzt auf Big Data

In Israels Gesundheitspflegeorganisation Maccabi (Health Maintenance Organization, HMO) findet bereits jede fünfte Arztkonsultation digital statt. Die digitale Aufbereitung von Gesundheitsdaten wird in Israel bereits seit zwei Jahrzehnten betrieben – und die Regierung hat erst vor Kurzen fast eine viertel Milliarde Euro in die Hand genommen, um künftig sämtliche Daten israelischer Bürger in einer zentralen Datenbank zusammen zu führen. Mit den drei Elementen große Datenbanken, künstliche Intelligenz (KI) und Konnektivität will man die Vorreiterrolle in Sachen Digital Health weiter ausbauen.

Israel-Flagge, Foto: CC0 (Stencil)
Israel-Flagge, Foto: CC0 (Stencil)

Schon heute setzen die israelischen HMO auf Algorithmen, die die Vorhersage von Erkrankungen erleichtern sollen: „Maccabi nutzt einen Algorithmus, der auf Basis sämtlicher Patientendaten und anhand bestimmter Werte Menschen mit einem erhöhten Risiko für Darmkrebs erkennt“, schreibt Projektmanager der Bertelsmann-Stiftung Thomas Kostera in dem Blog „Der digitale Patient“. Solche Hochrisiko-Typen können dann gezielt angesprochen und untersucht werden. Er weiß aber auch: Das Projekt „würde in Deutschland vermutlich unweigerlich auf massiven Widerstand stoßen.“ Israel belegt Rang vier auf der Index-Skala.

Es sind übrigens nicht nur kleine Länder, die sich mit der Digitalisierung leichter tun: Kanada (Platz 2), Spanien und England (Plätze 5 und 6) oder auch Italien mit einem Index von 55,81 (Platz 12) liegen gegenüber Deutschland deutlich vorne.

Digital Health in Deutschland: Es fehlt eine übergreifende Strategie

Ist Deutschland also eine digitale Wüste? Mitnichten, stellen die Autoren fest. Dass Gesundheitssysteme jenseits der Grenzen weiter sind, liegt weder an fehlenden Technologien oder mangelndem Innovationspotenzial, heißt es in der Studie. Selbst Datenschutz-Bedenken werden nicht angeführt. Es mangelt vielmehr an politischer Führung. Denn: „Erfolgreiche Länder zeichnen sich aus durch einen Dreiklang aus effektiver Strategie, politischer Führung und koordinierenden nationalen Institutionen“. Gesetzgebungskompetenz des Bundes in Verbindung mit dem Selbstverwaltungsprinzip führe zwar zu einer Vielzahl von politischen Aktivitäten. Aber: „Eine Gesamtstrategie und ein gemeinsames Zielbild, die etwa auch die Forschungsaspekte und die mobilen Gesundheitsanwendungen (mHealth) kohärent umfassen, sind noch nicht in Sicht“, heißt es in dem Deutschlandbericht von #SmartHealthSytems.

Auffallend ist: Außer in Deutschland und Spanien haben alle untersuchten Länder nationale Agenturen für digitale Gesundheit. Aus Sicht der Studienautoren Thomas Kostera und Timo Thranberend sind sie ein Erfolgskriterium: „Gute Strategien und politischer Wille allein reichen nicht aus – die vielfältigen Aufgaben und Interessen im Kontext der Digitalisierung müssen effektiv koordiniert und gesteuert werden.“ In sieben der Länder können diese Agenturen durch bindende Vorschriften und Standards aktiv in den Entwicklungsprozess eingreifen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat in seinem Ministerium nach Amtsantritt eine Abteilung für Digitalisierung gegründet mit dem Ziel, politische Grundlagen zu erarbeiten und Schnittstellenprobleme zu beseitigen. Immerhin.

© Bundesgesundheitsministerium / Maximilian König
© Bundesgesundheitsministerium / Maximilian König

Seit 2016 gilt in Deutschland das E-Health-Gesetz. Damit existiert zumindest formal ein Fahrplan für die Etablierung von Digital Health. Es enthält einige Anwendungen wie beispielsweise den Anspruch auf eine elektronische Patientenakte (ePA, ab 2021). Es hat den Weg freigemacht für die Videosprechstunde. Und es regelt den Medikationsplan, auf den Patienten Anspruch haben, die mehr als drei verschiedene Arzneimittel zu sich nehmen. Dieser wird allerdings weiterhin nur in Papierform ausgegeben. Was für Deutschland ein Fortschritt ist – der Gesundheitsminister Estlands würde wahrscheinlich vom Stuhl fallen.

Spahn: Es muss „cool“ werden

Das Fazit der Bertelsmann-Stiftung: „Es gibt keine umfassenden Zielformulierungen, Richtlinien oder Fristen für ein digitales Gesundheitswesen als Ganzes.“ Sie fordert von der Gesundheitspolitik entschlossener zu handeln. Jens Spahn hatte bei Amtsantritt die Digitalisierung im Gesundheitswesen zu einem seiner Schwerpunkte erklärt. Es müsse „cool“ werden, dabei zu sein, erklärte er. Zeit wird es, denn: Platz 16 von 17 ist richtig uncool.

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