Der BPI hat die AMNOG-Daten 2019 veröffentlicht. Foto: © iStock.com/utah778
Der BPI hat die AMNOG-Daten 2019 veröffentlicht. Foto: © iStock.com/utah778

AMNOG-Verfahren: Noch immer knirscht es im Gebälk

Sorgt die Frühe Nutzenbewertung neuer Medikamente (das so genannte „AMNOG-Verfahren“) dafür, dass die Verfügbarkeit neuer Medikamente durch Marktaustritte beeinträchtigt ist und verfügbare Innovationen nur unzureichend beim Patienten ankommen? Wirkt das AMNOG als Versorgungshürde? Dafür sehen die Autoren des vom Bundesverband der pharmazeutischen Industrie (BPI) vorgelegten Berichts „AMNOG-Daten 2019“ zunehmend Anzeichen.

Vor mehr als acht Jahren wurde in Deutschland das AMNOG scharfgestellt, die Frühe Nutzenbewertung von neu auf den Markt gekommenen Medikamenten. Es war die „Pharmawende“, wie die Ökonomen Prof. Dieter Cassel von der Universität Duisburg-Essen und sein Kollege Prof. Volker Ulrich aus Bayreuth im „AMNOG-Daten 2019“-Bericht schreiben. Seitdem ist viel passiert: Über 300 Verfahren für rund 200 Präparate hat es gegeben (Stichtag: 31.12.2018), neue Medikamente in mehr als 14 Indikationen kamen auf den Markt und wurden „nutzenbewertet“. 

Streit um den Nutzen eines Brustkrebsmedikamentes

Seine „prozeduralen Anlauflaufprobleme“ hat das AMNOG „erstaunlich schnell überwunden“, schreiben die Autoren. Doch dass es im Gebälk immer noch erheblich knirscht, zeigt der erst kürzlich ergangene Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zum Brustkrebsmedikament Ribociclib. Der Kinasehemmer (ein CDK4/6-Inhibitor), der laut Pharmaverband vfa in zwei Studien die Senkung des Sterberisikos für Patientinnen um 30 Prozent nachgewiesen hat, bekam nur ein „Zusatznutzen nicht belegt“. Der G-BA stellt sich damit gegen die Meinung einer medizinischen Fachgesellschaft wie der DGHO, die die CDK4/6-Hemmer in der Erst- und der Zweitlinientherapie empfiehlt, was sich im Übrigen mit den internationalen Leitlinien deckt. Vfa-Chef Han Steutel sieht „eine erklärungsbedürftige Lücke zwischen der medizinischen Fachwelt und dem obersten Gremium der Selbstverwaltung. Diese Spannung ist für das deutsche Gesundheitssystem unerträglich und gegenüber Patientinnen mit Brustkrebs nicht vermittelbar.”

Der Streit ist nicht neu. Auch schon beim Wirkstoff Palbociclib – auch der ein Kinasehemmer für Frauen mit einem bestimmten Brustkrebs – hatte man keinen Zusatznutzen entdecken können und in der medizinischen Fachwelt Kopfschütteln ausgelöst.

AMNOG-Daten 2019: Empirische Belege für negative Versorgungseffekte

Es sind zwei Beispiele dafür, dass man bei der Bewertung von Arzneimitteln auf der Basis derselben klinischen Daten zu ganz unterschiedlichen Bewertungen kommen kann – frei nach dem Motto: Vor Gericht, auf hoher See und im AMNOG-Verfahren ist man in Gottes Hand. Für Cassel und Ulrich ist auf jeden Fall klar, dass sich negative Versorgungseffekte des AMNOG empirisch nachweisen lassen. Die machen sich in zweierlei Hinsicht bemerkbar:

  • Als Versorgungslücken, etwa dadurch, dass in anderen Ländern verfügbare Arzneimittelinnovationen in Deutschland nicht verfügbar sind;
  • Als Verordnungslücken, etwa dadurch, dass sie zwar verfügbar sind, aber nicht oder nur in geringem Ausmaß verschrieben werden.

Von den insgesamt 197 neuen Präparaten mit abgeschlossener Nutzenbewertung und Preisfindung sind mittlerweile 26 nicht mehr in Deutschland verfügbar. Die eine Hälfte wurde nach der Nutzenbewertung vom Markt zurückgezogen (Opt-out), die andere Hälfte nach Abschluss der Preisfindung. In der Liste der nicht mehr in Deutschland verfügbaren Arzneimittel finden sich Präparate mit belegtem Zusatznutzen sowie solche mit einem nicht belegten Zusatznutzen – etwa zur Behandlung des Typ 2-Diabetes, von Prostata-Krebs, der seltenen Erkrankung Duchenne-Muskelatrophie oder Depression.

„Wenn jedes siebte Arzneimittel nach seiner Einführung im Kontext des AMNOG-Verfahrens wieder den Markt verlässt und damit hierzulande nicht mehr zur Verfügung steht, könnte aus jeder mit einem Marktaustritt entstehenden ´Verfügbarkeitslücke` auch leicht eine ´Versorgungslücke“ in dem Sinne erwachsen, dass das Medikament therapeutisch nicht oder nur schwer ersetzbar bzw. substituierbar ist“, heißt es dazu in den AMNOG-Daten.

Kein Zusatznutzen belegt muss nicht einmal heißen: Kein Zusatznutzen belegt

Nun könnte man meinen: Neue Arzneimittel, die entweder keinen oder einen nicht belegten Zusatznutzen haben, fehlen auch niemandem. Das aber ist ein Trugschluss:

  • Kein belegter Zusatznutzen heißt nicht: Kein Nutzen. Denn das jeweilige Arzneimittel hat ja durch die Zulassung bescheinigt, dass es wirksam und sicher ist. Es stellt deshalb ggf. eine wichtige Therapieoption dar – z.B., wenn ein Patient ein bestimmtes Medikament nicht verträgt und deshalb Alternativen braucht.
  • In diesem Szenario ist es sogar möglich, dass ein Arzneimittel, das sich im Vergleich als schlechter wirksam entpuppt hat, bei einem bestimmten Patienten einen höheren Nutzen hat, als die vermeintlich bessere Vergleichstherapie – einfach, weil es bei ihm wirkt.
  • Kein belegter Zusatznutzen muss noch nicht einmal heißen: Kein belegter Zusatznutzen. Denn in der Realität des AMNOG geht eine solche Entscheidung zu 80 Prozent auf formale bzw. methodische Gründe zurück.

Denn anders als angenommen, ist die Nutzenbewertung keine exakte Wissenschaft. So können Daten zu Nebenwirkungen – das zeigt sich an den genannten Beispielen von Brustkrebs – vollkommen unterschiedlich bewertet werden. Solch interpretatorischer Spielraum ergibt sich z.B. auch bei den Anforderungen bei der Auswahl der Vergleichstherapie, der bestverfügbaren Evidenz, bei direkten oder indirekten Vergleichen von Therapien, im Studiendesign oder bei Surrogat-Parametern. In der Frühen Zusatznutzenbewertung gibt es selten ein ganz richtig oder ganz falsch.

Foto: © Chinnapong - stock.adobe.com
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AMNOG: Jeder Marktaustritt kann die Versorgung verschlechtern

Insofern kann jeder Marktaustritt von Produkten ohne Zusatznutzen die zur optimalen Versorgung der Patienten notwendige Therapievielfalt vermindern. Das gilt vor allem auch für Arzneimittel, bei denen Resistenzbildungen drohen – also bei solchen, die zunächst wirksam sind, aber im Laufe der Anwendung unbrauchbar werden, weil der Körper einen Weg gefunden hat, den Wirkmechanismus zu umgehen.

Das Fazit von Cassel und Ulrich lautet: „Die ursprünglichen Ambitionen des AMNOG, zu denen die Versorgung der Patienten mit den wirksamsten und fortschrittlichsten Arzneimitteln ebenso gehört, wie die Gewährleistung adäquater und verlässlicher Rahmenbedingungen für Investitionen der pharmazeutischen Unternehmer, sind noch nicht erreicht, sondern erfordern weitere Reformschritte, um dem AMNOG zu dem Erfolg zu verhelfen, den es verdient.“

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