Im Interview erklärt ITler Clemens Utschig-Utschig  Boehringer Ingelheim  wie Quantencomputer die Entwicklung von Arzneimitteln besser machen könnten. Foto: © iStock.com/metamorworks
Im Interview erklärt ITler Clemens Utschig-Utschig Boehringer Ingelheim wie Quantencomputer die Entwicklung von Arzneimitteln besser machen könnten. Foto: © iStock.com/metamorworks

Gentherapie: „Neue therapeutische Möglichkeiten für viele bislang unheilbare Krankheiten”

Die europäische Arzneimittelagentur EMA und ihr amerikanischer Pendant FDA haben seit 2016 insgesamt sechs Gentherapien zugelassen. Weitere Vertreter sind in der Entwicklung. Doch noch ist viel zu tun, „um die Herausforderungen, die diese neue Medikamentenklasse mit sich bringt, zu überwinden und ihr volles therapeutisches Potenzial zu realisieren“, schreiben Wissenschaftlerinnen im Fachmagazin „The New England Journal of Medicine“.
Gentherapie: Neue therapeutische Möglichkeiten für viele bislang unheilbare Krankheiten. Foto: ©iStock.com/metamorworks
Gentherapie: Neue therapeutische Möglichkeiten für viele bislang unheilbare Krankheiten. Foto: ©iStock.com/metamorworks

Es war im Oktober 2012, als die erste Gentherapie in der westlichen Welt von der Europäischen Kommission durchgewunken wurde. Es handelte sich um ein Präparat gegen eine seltene, schwere Fettstoffwechselstörung. Aus wirtschaftlichen Gründen ließ das Unternehmen die Zulassung inzwischen auslaufen – doch der Forschung hat das keinen Abbruch getan. Im Gegenteil: In den vergangenen vier Jahren haben EMA und/oder FDA zwei gentherapeutische Präparate zur Behandlung bestimmter Blutkrebsarten zugelassen, eines gegen einen schweren Immundefekt bei Kindern sowie weitere gegen eine erbliche Augenerkrankung, eine vererbbare Nervenerkrankung und gegen Beta-Thalassämie – eine Erkrankung des roten Blutfarbstoffs.

„Gentherapie bezeichnet die gezielte Veränderung von Genen durch rekombinante Nukleinsäuren in Zellen von Kranken. So kann eine Nukleinsäuresequenz reguliert, repariert, ersetzt, hinzugefügt oder entfernt werden mit dem Ziel der Diagnose, Vorbeugung, Heilung oder therapeutischen Besserung“, erklärt der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) in einem Positionspapier zur „Somatischen Gentherapie“. Somatische Gentherapie bedeutet, dass die jeweiligen Genomveränderungen nicht an die Nachkommen vererbt werden.

Gentherapeutika – eine „echte Kausaltherapie“

Ein Beispiel ist die CAR-T-Zelltherapie – sie funktioniert (bislang) „ex vivo“. Das heißt: Bei den Tumorpatienten werden bestimmte Immunzellen entnommen; dann gentechnisch so verändert, dass sie eigenständig Krebszellen erkennen und vernichten können – und anschließend per Infusion dem Betroffenen zurückgeführt. Im Gegensatz dazu geschieht bei einem „in vivo“-Ansatz die Behandlung von Anfang an direkt im Körper des Patienten: So wird z.B. das Gentherapeutikum, das eine Form der Erblindung lindern soll, ins Auge injiziert.

„Die große Bedeutung der somatischen Gentherapie ergibt sich daraus, dass sie eine echte Kausaltherapie ist. […] Im Unterschied zur herkömmlichen medikamentösen Therapie erfolgt bei der Gentherapie keine Verabreichung eines direkt wirkenden Arzneimittels; vielmehr sollen die Körperzellen durch die Gabe entsprechender Gene (also des entsprechenden Bauplans) dazu veranlasst werden, die benötigten Proteine selbst zu produzieren“, so der vfa. Das eignet sich nicht nur für die Korrektur von Erbkrankheiten, sondern womöglich auch zur Behandlung von HIV, Parkinson oder Krebs. „Therapeutische Anwendungsbereiche ergeben sich insbesondere in Fällen, in denen konventionelle Technologien versagen“, so der vfa.

Bis zur Zulassung von Gentherapien: ein langer Weg

Bis zur Zulassung der Gentherapien ist es ein langer Weg. 
Foto: ©iStock.com/ipopba
Bis zur Zulassung der Gentherapien ist es ein langer Weg.
Foto: ©iStock.com/ipopba

Gentherapien – daran arbeiten Wissenschaftler weltweit schon seit vielen Jahrzehnten. Der Weg bis zur Anwendung in der klinischen Praxis ist lang. Ein Beispiel: Schon vor über 20 Jahren liefen Studien mit ex vivo-Gentherapien, um Kinder mit der oft tödlichen Immunkrankheit ADA-SCID zu behandeln, wie aus dem Fachartikel der Wissenschaftlerinnen Katherine A. High und Maria G. Roncarolo in „The New England Journal of Medicine“ (NEJM) hervorgeht. Doch sie waren „nicht erfolgreich“. Als erste Patientin weltweit, die eine Gentherapie erhielt, ging die damals vierjährige Ashanti DeSilva 1990 in die Geschichte ein.

Die Behandlung lief gut, doch die Wirkung ließ mit der Zeit nach. Seit 2016 nun hat die EMA ein Gentherapeutikum gegen ADA-SCID zugelassen – mehr als ein Vierteljahrhundert nach den ersten Studien mit Menschen.

Ein anderes Beispiel: „Eine Gentherapie zur Behandlung von Thalassämie und Sichelzellenanämie war mehr als drei Jahrzehnte lang ein schwer erreichbares Ziel“, schreiben die beiden Expertinnen. Erst kürzlich – im Juni dieses Jahres – hat ein Gentherapeutikum von der Europäischen Kommission die bedingte Zulassung für bestimmte Patienten mit Beta-Thalassämie erhalten. Und: „Vier Studien mit Gentherapien […] für die Sichelzellenanämie laufen aktuell“, fügen High und Roncarolo hinzu.

Im Interview mit Stephen Morrissey, Chefredakteur des NEJM, erklärt High: „Es ist wirklich interessant, dass wir in der Gentherapie – wie bei vielen anderen Medikamentenklassen auch – deutlich sehen können, dass die späteren Erfolge auf einer rigorosen, wissenschaftlichen Evaluation der anfänglichen Misserfolge aufbauten“. Soll heißen: Die Arbeit an gescheiterten Studien und Wirkstoffkandidaten war nicht umsonst; aus Fehlern wurde gelernt – wie das Beispiel ADA-SCID zeigt.

Gentherapie-Forschung: weltweit knapp 2.900 Studien

Laut vfa nimmt die Forschung im Bereich der Gentherapie beständig zu. „Weltweit wurden bisher knapp 2.900 Studien durchgeführt oder laufen derzeit“. Die Mehrheit von ihnen (67 %) richtet sich gegen Krebs, weitere gegen monogene Erbkrankheiten, Infektionskrankheiten und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. „In Deutschland wurden bisher 102 Gentherapie-Studien registriert.“ Damit liegt Deutschland weltweit auf Platz 4 – hinter den USA, dem Vereinigten Königreich (UK) und China.

Es entwickelten in einer Studie einige der teilnehmenden SCID-Patienten Leukämie. Foto: ©iStock.com/Dr_Microbe
Es entwickelten in einer Studie einige der teilnehmenden SCID-Patienten Leukämie. Foto: ©iStock.com/Dr_Microbe

Von den aktuell weltweit laufenden Studien dienen, so der vfa, „ca. 95 Prozent der Prüfung der Verträglichkeit (Phase I) sowie der Verträglichkeit und Dosisfindung (Phase II).“ Das heißt: Hier werden u.a. mögliche Risiken von Gentherapien untersucht. Im Fokus stehen vor allem auch Rolle und Auswirkungen von sog. Vektoren. Diese Vektoren stellen eine große Herausforderung in der Gentherapie-Entwicklung dar. Denn: Was hilft ein fehlerfreies Gen, wenn es nicht am passenden Ort im Körper des Patienten ankommt? Vektoren kommen daher als „Genfähren“ zum Einsatz; sie transportieren die funktionsfähigen Gene in die Zielzellen des Patienten. Genutzt werden hierfür z.B. bestimmte Viren, die modifiziert wurden und somit eigentlich harmlos sind. Risiken können trotzdem von ihnen ausgehen.

So entwickelten in einer Studie in den 2000ern manche der teilnehmenden SCID-Patienten Leukämie. Wenn die viralen Vektoren ihre „Last“ am falschen Ort ablegen, ist eine Tumorbildung möglich. Über die Zeit lernten die Wissenschaftler in Bezug auf die Genfähren einiges dazu – auch was etwa ihre Langlebigkeit (und damit Wirksamkeit der Therapie) sowie Abwehrreaktionen des Körpers angeht.

Laut High und Roncarolo gehört es bei ex vivo-Gentherapien zu den zukünftigen Zielen, bessere (lentivirale) Vektoren zu entwerfen, um die Sicherheit weiter zu erhöhen, und sie in großem Maßstab produzieren zu können. Bei in vivo-Therapien mit sog. Adeno-assoziierte Viren (AAV) werde der Fokus der Forschung im nächsten Jahrzehnt v.a. darauf liegen die Immunreaktion des menschlichen Körpers auf die viralen Vektoren zu verstehen und zu managen. Auch gehe es hier darum, die Zielausrichtung der Vektoren zu verbessern und mittels geringerer Dosen eine ausreichende Wirksamkeit zu erreichen.

Kosten von Gentherapeutika: eine Herausforderung?

„Eine Herausforderung für alle Zell- und Gentherapien ist, dass diese einmaligen, hochwertigen Behandlungen in einem […] Umfeld auftauchen, das für Medikamente, die über eine lange Zeit eingenommen werden, entwickelt wurde“, erklären die Wissenschaftlerinnen in ihrem NEJM-Artikel. „Die meisten werden zustimmen, dass Therapien, die nur einmal verabreicht werden müssen, […] einer wiederholten Medikamenteneinnahme vorzuziehen sind. Deshalb ist die Erwartung, dass der langfristige Nutzen dieser einmaligen Therapien die hohen Kosten rechtfertigen wird.“ Als Beispiel nennen High und Roncarolo Hämophilie: Die Standardbehandlung „kann 400.000 US-Dollar und mehr pro Jahr und Patient kosten.“

Eine Herausforderung werden aus ihrer Sicht daher v.a. Erkrankungen, für die es zuvor noch gar keine Behandlungsmöglichkeit gab. „Da wird es keinen direkten Kosten-Ausgleich für das Gesundheitssystem geben.“ Für manche gentherapeutische Produkte wurden daher schon „Pay-for-Performance“-Modelle entwickelt – die Vergütung des pharmazeutischen Herstellers erfolgt je nach Erfolg der Therapie. „Auch wurden bereits jährliche Zahlungen, die geleistet werden, so lange wie der therapeutische Effekt anhält, vorgeschlagen“. Das Fazit der Wissenschaftlerinnen: „Fortschritte in der Gentherapie haben spannende, neue therapeutische Möglichkeiten für viele bislang unheilbare Krankheiten aufgedeckt.“ Doch noch gibt es viel zu tun, damit das therapeutische Potenzial dieser Medikamentenklasse vollständig realisiert werden kann.

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