Am Leben teilhaben und bestmöglich medizinisch versorgt werden: Für einige MS-Patienten ist das nur ein Wunschdenken. Das soll sich zukünftig ändern. Foto: ©iStock.com/Stadtratte
Am Leben teilhaben und bestmöglich medizinisch versorgt werden: Für einige MS-Patienten ist das nur ein Wunschdenken. Das soll sich zukünftig ändern. Foto: ©iStock.com/Stadtratte

Multiple Sklerose 2030: Bessere Versorgung, mehr Teilhabe

„An MS erkrankte Menschen wollen am Leben teilhaben und optimal medizinisch und therapeutisch versorgt werden“, heißt es in einem aktuellen White Paper, das der Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband (DMSG) mit einem Bündnis aus Ärzten veröffentlicht hat. Die Realität ist jedoch häufig eine andere. Verzögerter Therapiebeginn, eingeschränkte Mobilität sowie die emotionale und finanzielle Belastung sind nur einige von vielen Herausforderungen, vor denen die Erkrankten stehen.

„Multiple Sklerose erhält als häufigste Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems noch nicht die öffentliche Aufmerksamkeit, die die Erkrankung dringend bekommen sollte“, schreibt SPD-Gesundheitspolitikerin Martina Stamm-Fibich im Vorwort des White Paper „Multiple Sklerose Versorgung 2030“.

Foto: ©iStock.com/Stadtratte
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Immer mehr Bundesbürger sind von „Multipler Sklerose (MS)“ betroffen. „Innerhalb der vergangenen sechs Jahre stieg die Zahl der Erkrankten auf 224.000 Menschen, das heißt 51.000 Menschen mehr als noch 2009“, heißt es in dem Papier vom DMSG, dem Spitzenverband ZNS (SpiZ), dem Berufsverband Deutscher Neurologen (BDN) und dem Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN). Bessere diagnostische Möglichkeiten und die gestiegene Lebenserwartung der Patienten sind Gründe dafür.

„Mein Ziel als Patientenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion ist es, die Teilhabe und die Selbstbestimmung von MS-Erkrankten zu verbessern“, so Stamm-Fibich. Da hat die Politikerin noch einiges an Arbeit vor sich. Schließlich sind die Symptome der Patienten sehr unterschiedlich – dementsprechend individuell sind ihre Bedürfnisse. Hinzu kommt: MS ist bislang nicht heilbar; eine lebenslange Therapie ist notwendig.

Frühzeitige MS-Diagnose

Und schon da gibt es große Herausforderungen: Trotz definierter, klarer Diagnosekriterien, „beträgt die durchschnittliche Diagnosedauer in Deutschland immer noch 2,7 Jahre“, heißt es in dem White Paper. Für die Patienten kann das negative Folgen haben – insbesondere bei Erkrankungsformen, die in Schüben verlaufen. Denn „eine einmal erworbene körperliche Behinderung ist durch einen verspäteten Therapiebeginn in den allermeisten Fällen nicht umkehrbar“.

Gerade wenn Patienten die Beschwerden nur zeitlich begrenzt wahrnehmen, suchen sie zu selten sofort einen Arzt auf. „Darüber hinaus erkennt der primärversorgende Facharzt oder Hausarzt die MS-Symptome häufig nicht (oder schätzt sie als zu geringfügig ein) und überweist PatientInnen zu spät an den entsprechenden Facharzt in Klinik oder Praxis.“

Die Experten rund um den DMSG fordern daher, dass Leitfäden entwickelt werden, um sie den Ärzten an die Hand zu geben. Schließlich sind viele anfängliche Beschwerden unspezifisch und schwer zuzuordnen – seien es Müdigkeit, Störungen der Muskelfunktion oder in der Konzentration. Die Leitfäden sollen bei der Prüfung und Erkennung der Symptome unterstützen und die Diagnose beschleunigen.

MS-Therapie: Komplexität anerkennen

Doch damit ist es nicht getan: Die medizinische Versorgung von MS-Erkrankten ist „aufwändig und auf Grund der zunehmend komplexen Therapien therapeutisch herausfordernd“. Die Behandlung muss auf den Patienten zugeschnitten sein; es gilt, unterschiedliche Fachdisziplinen – über viele Jahre – einzubeziehen.

Behandlung muss auf den Patienten zugeschnitten sein. Foto: ©iStock.com/YakobchukOlena
Behandlung muss auf den Patienten zugeschnitten sein. Foto: ©iStock.com/YakobchukOlena

„Eine immuntherapeutische Anwendung, die bestmöglich und individuell unter Berücksichtigung des Nebenwirkungsprofils, des Einnahmemodus, der Relation zwischen Wirkung und Sicherheitsprofil etc. auf den Patienten abgestimmt ist, ist aber von grundlegender Bedeutung für den Krankheitsverlauf.“ Die „erheblichen Fortschritte“ in der MS-Therapie haben „noch immer nicht überall in Deutschland zu einem leichten und dann konsequenten Therapiezugang geführt“, kritisieren die Experten.

Woran das liegt? Ein Aspekt ist, dass die Versorgung bei MS im Vergleich zu anderen Erkrankungen wie etwa Schlaganfall „einen dauerhaft hohen Ressourceneinsatz“ erfordert – was in Sachen Budgetierung nicht anerkannt wird.

„In der Wirtschaftlichkeitsprüfung von MS-Schwerpunktpraxen führt das regelmäßig zu Auffälligkeitsprüfungen und zum Teil zu Regressforderungen.“ Daher wollen DMSG und Co., dass „Neurologen unterschiedlicher Versorgungssektoren mit MS-Schwerpunkt in Bezug auf die Budgetierung gesondert“ betrachtet werden.

Symptomatische MS-Therapien und Telemedizin ausbauen

Telemedizin ausbauen. ©iStock.com/wernerimages (peter werner)
Telemedizin ausbauen. ©iStock.com/wernerimages (peter werner)

Neben der Immuntherapie spielen Physio-, Ergo- und Logotherapien sowie z.B. neuropsychologische Behandlungen eine große Rolle für die Patienten. Doch sie stehen den Betroffenen „nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung“. Dabei sind sie wichtig, um die soziale Teilhabe sowie Selbstbestimmung zu stärken und die Lebensqualität zu verbessern. Symptomatische Therapien ausbauen und vergüten: So lautet eine von vielen Forderungen im Whitepaper.

Eine weitere Forderung ist es, telemedizinische Angebote zu erweitern, „um eine vernetzte wohnortnahe Versorgung vor allem im ländlichen Raum zu ermöglichen.“ Möglichkeiten der Vernetzung und des Teilens von Wissen unter den Experten werden nicht ausreichend genutzt, heißt es.

Fachärztliche intersektorale Telekonsile und interdisziplinäre digitale Fachkonferenzen wären eine Möglichkeit. Auch in Sachen Apps, Online-Sprechstunden, digitale Patientenakte und dergleichen ist in Deutschland noch Luft nach oben.

Soziale Teilhabe mit MS: Mobilität, Berufsleben, Familie

„Menschen mit MS wollen vor allem eines: trotz Krankheit ein ‚normales Leben‘ führen.“ Laut DMSG, SpiZ, BDN und BVDN machen viele von ihnen jedoch gegenteilige Erfahrungen. Sie erleben Diskriminierung und soziale Isolation; Unterstützungsangebote fehlen. Bessern kann sich diese Situation nur, wenn sich das politische und gesellschaftliche Umfeld ändert. Dazu gehört u.a.:

Foto: ©iStock.com/Lilkin
Foto: ©iStock.com/Lilkin
  • …die Mobilität. Neurologische Behandlungseinheiten müssen z.B. barrierefrei gestaltet werden, damit sie auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind.
  • …das Thema Beruf: „Trotz der Verfügbarkeit von Immuntherapeutika sind aktuell 50 Prozent der MS-Erkrankten im erwerbsfähigen Alter vorzeitig berentet“. Dieser Anteil könnte sinken, werden die Medikamente frühzeitiger und konsequenter gegeben. Im Kampf gegen finanzielle Einschränkungen, (Alters-)Armut und hohe gesamtgesellschaftliche Kosten könnten jedoch z.B. berufliche Umschulungen eine Lösung sein. „Arbeitgeber sowie staatliche Einrichtungen sollen dazu beitragen, MS-Betroffene möglichst lange […] in der beruflichen Teilhabe zu halten.”
  • …das familiäre Umfeld. Denn die Diagnose MS trifft die Menschen meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Kann ich noch Kinder bekommen? Und wer kümmert sich um meinen Sohn oder meine Tochter, wenn ich mal länger beim Arzt bin? Solche Themen sollten in der Versorgung der Patienten berücksichtigt werden. Gleichzeitig bedürfen pflegende Angehörige Unterstützung und Entlastung – ein Ausbau des Pflegesektors ist notwendig.

In erster Linie soll das Whitepaper, wie die SPD-Politikerin schreibt, „Anstoß und Orientierung sein, um durch konkrete Vorschläge auf eine Verbesserung der Versorgung und Teilhabe von Menschen mit MS hinzuwirken“. Nun ist die Umsetzung gefragt.

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