Ein deutsches Wissenschaftler-Team hat Maßnahmen erarbeitet  die zu einer Erhöhung der Impfraten beitragen könnten. Foto: ©iStock.com/Pixel_away
Ein deutsches Wissenschaftler-Team hat Maßnahmen erarbeitet die zu einer Erhöhung der Impfraten beitragen könnten. Foto: ©iStock.com/Pixel_away

Impfraten erhöhen: Gründe des Nicht-Impfens gezielt angehen

Das sogenannte „5C-Modell“ beschreibt fünf wesentliche psychologische Gründe der Entscheidung zum Impfen oder Nicht-Impfen. Demnach können der Grad des Vertrauens in die Vakzine (Confidence), das individuell wahrgenommene Krankheitsrisiko (Complacency), mögliche Barrieren im Alltag (Constraints), das eigene Informationsbedürfnis (Calculation) sowie das Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft (Collective Responsibility) ausschlaggebend für das Impfverhalten sein. Ein Wissenschaftler-Team der Universität Erfurt und der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen hat Maßnahmen erarbeitet, die zu einer Erhöhung der Impfraten beitragen könnten.

„Eine Sepsis ist ein lebensbedrohlicher Zustand. Sie ist die schwerste Komplikation von Infektionserkrankungen und wird im Volksmund auch Blutvergiftung genannt. Jede Infektion kann zu einer Sepsis führen, also auch eine Grippe oder eine Lungenentzündung.“ Diese Informationen finden sich auf der Webseite der Thüringer Kampagne „impfen60+“. Mit ihr wollen die Universität Erfurt, das Designbüro Lindgrün GmbH, das Universitätsklinikum Jena und das Robert Koch-Institut die Influenza- und Pneumokokken-Impfquoten unter Senioren erhöhen. 

Im Vorfeld hatten die Verantwortlichen 700 Thüringerinnen und Thüringer über 60 befragt – und herausgefunden, dass Nicht-Geimpfte gemäß des „5C-Modells“ (s. Grafik) höhere Calculation-Werte – und damit ein hohes Informationsbedürfnis – hatten. Daher die Informationskampagne. Auch stellte man fest, dass die Zielgruppe Influenza und Pneumokokken nicht als schwerwiegend für sich wahrgenommen hatte (s. Complacency). Durch die Kommunikation der Sepsis als mögliche Folgeerkrankungen sollte sich ein besseres Risikobewusstsein entwickeln.

„impfen60+“ – beispielhafter Einsatz des 5C-Modells

Das Wissenschaftlerteam der Uni Erfurt und der RWTH Aachen rund um Psychologin Cornelia Betsch schreibt in einer Publikation im Bundesgesundheitsblatt weiter über die Kampagne:

„Nichtgeimpfte hatten außerdem geringeres Vertrauen in die Sicherheit und Effektivität der Impfungen; daher wurden in der Kampagne Mythen entkräftet (z.B. der Mythos die Grippeimpfung verursache die Grippe)“. Und: „Letztlich zeigten Geimpfte im Vorfeld eine höhere Collective Responsibility als Nichtgeimpfte, sodass ein zentrales Element der Kampagne die Erklärung des Gemeinschaftsschutzes wurde“. Ein Flyer – verteilt über Arztpraxen und Apotheken – sowie eine auf die Zielgruppe zugeschnittene Webseite sind Kern der Kampagne. Betsch und Kollegen sprechen von einem „beispielhaften Einsatz der 5C“.

In ihrem Beitrag haben die Forscher für alle fünf „C´s“ (s. Grafik) mögliche Maßnahmen zur Erhöhung von Impfraten vorgeschlagen:

Positive Impferfahrung in Schwangerschaft. ©iStock.com/Daniel Besic
Positive Impferfahrung in Schwangerschaft. ©iStock.com/Daniel Besic

Ist fehlendes Vertrauen (Confidence) ein ausschlaggebender Punkt für Nicht-Impfen sollte die Entwicklung einer positiven Einstellung gefördert werden. In einer Langzeitstudie hatte sich etwa gezeigt, dass Frauen während der Schwangerschaft positive Impferfahrungen hatten. Das änderte sich jedoch nach der ersten Impferfahrung mit dem eigenen Kind. „Es ist also sehr wichtig, für eine positive erste Impferfahrung zu sorgen, z. B. durch stress- und schmerzarmes Impfen […], um die Entwicklung einer positiven Einstellung zu Kinderimpfungen zu fördern“. Ein weiterer wichtiger Ansatz: Falschwissen korrigieren und aufklären. Laut der Wissenschaftler ist es nicht nur wichtig, über die falschen Inhalte aufzuklären, sondern auch über die Techniken, die Impfgegner verwenden.

Die Techniken von Impfgegnern und Klimawandelleugnern 

„Es wird dabei oftmals auf dieselben fünf rhetorischen Techniken zurückgegriffen, die auch im Zusammenhang mit der Leugnung des Klimawandels und der Evolutionstheorie verwendet werden: Impfgegnerinnen und -gegner stellen die Faktenlage in einer verzerrten Weise dar und ziehen falsche Schlüsse (engl.: ‚misrepresentation‘, ‚false logic‘), sie erwarten Unmögliches von der Wissenschaft (‚impossible expectations‘), sie vermuten Verschwörungen von Industrie und Gesundheitsorganisationen (‚conspiracy theories‘), sie selektieren spezifsche Datenpunkte aus der Gesamtheit der vorhandenen Datenmenge (‚cherry picking‘) und rezitieren Personen, die aufgrund ihrer wissenschaftlichen Ausbildung und/oder ihrer Befangenheit nicht als Experteninnen oder Experten für Impfstoffsicherheit und -effektivität gelten (‚fake experts‘).“ Dadurch erscheinen impfskeptische Botschaften zunächst plausibel – einer kritischen wissenschaftlichen Betrachtung halten sie jedoch nicht Stand, heißt es.

Masern-Virus. ©iStock.com/Dr_Microbe
Masern-Virus. ©iStock.com/Dr_Microbe

Auch wichtig in Sachen Aufklärung: Sind die Durchimpfungsraten bei Krankheiten wie Diphtherie hoch, verschwindet das Bewusstsein für sie in der Bevölkerung. Sie erscheinen nicht mehr bedrohlich – Impfungen werden nicht mehr als wichtig erachtet (s. Complacency). Aber auch Erkrankungen wie die Grippe werden oft unterschätzt. „Hier hilft es, das Bewusstsein für den Schweregrad der Erkrankungen zu schärfen.“ Eine Möglichkeit sind Furchtappelle – jedoch nur eingeschränkt:  So können z.B. abschreckende Bilder von mit Masern infizierten Kindern laut der Wissenschaftler „einen Bumerangeffekt auslösen und zu einer geringeren Impfbereitschaft führen“.  

Ein noch recht junger Ansatz ist der, den auch die Thüringer Kampagne „impfen60+“ verfolgt: Es wird über das Risiko von Folgeerkrankungen aufgeklärt – also z.B. über die Sepsis nach Influenza- oder Pneumokokkenerkrankung.

Impfen ist in Deutschland nicht einfach genug 

„In Deutschland stimmten 13 Prozent der befragten Personen teilweise oder voll zu, dass sie Alltagsstress vom Impfen abhält“ (Constraints). Das ist Ergebnis einer Repräsentativbefragung aus dem Jahr 2016 der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Kurz gesagt: Impfen ist nicht einfach genug. Daher gilt es, praktische Barrieren im Gesundheitssystem abzubauen. In den Niederlanden etwa werden Impfungen über ein nationales Datenbanksystem erfasst. Bei fehlenden Impfungen erhalten die Betroffenen individualisierte Erinnerungsbriefe. Die deutsche Bundesregierung hat erste kürzlich eine Masern-Impfpflicht beschlossen. Als eine mögliche Alternative schlagen Betsch und Kollegen eine Widerspruchsregelung vor: „Dabei entspricht Impfen dem Standard – wer dies jedoch nicht möchte, kann eine Ausnahme beantragen. Ein Vorteil hiervon ist, dass die Entscheidungsfreiheit aufrechterhalten bleibt und dennoch das erwünschte Verhalten wahrscheinlicher wird“. 

Das Informationsangebot muss verbessert werden. Foto: CC0 (Stencil)
Das Informationsangebot muss verbessert werden. Foto: CC0 (Stencil)

In Bezug auf das vierte „C“ im 5C-Modell – Calculation – appellieren die Autoren der Publikation, dass das Informationsangebot verbessert werden muss. „Vielen Eltern fällt es schwer, wissenschaftlich fundierte Informationsangebote zu finden. Impfkritische Internetangebote treten mittlerweile sehr professionell auf und suggerieren Wissenschaftlichkeit.“ Eine Lösung könnte etwa ein nationales Gesundheitsportal sein. Aber auch Ärzte sollten vermehrt auf seriöse Informationsangebote zum Thema Impfen auf ihren eigenen Webseiten oder im Patientengespräch hinweisen: Das Portal der BZgA „www.impfen-info.de“ z.B. ist insbesondere auf medizinische Laien ausgerichtet.

Impfen als soziale Verantwortung

Ist Nicht-Impfen in einer Zielgruppe auf geringe Collective Responsibility zurückzuführen, gilt es – wie bei „impfen60+“ – die Bedeutung der Herdenimmunität hervorzuheben und dabei zu betonen, dass so auch die geschützt werden, die nicht geimpft werden können. „Impfverhalten hängt von vielen Faktoren ab und Daten zeigen, dass nicht nur das Vertrauen in Impfungen ein wichtiger Aspekt ist, sondern dass auch in Deutschland praktische Barrieren abgebaut werden müssen“, fasst das Wissenschaftler-Team zusammen. 

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