Keine Nachrichtensendung ohne R-Wert: Die Reproduktionszahl ist bei Infektionskrankheiten ein wichtiger Gradmesser. Aber sie hat auch ihre Tücken. Foto: ©iStock.com/Drazen Zigic
Keine Nachrichtensendung ohne R-Wert: Die Reproduktionszahl ist bei Infektionskrankheiten ein wichtiger Gradmesser. Aber sie hat auch ihre Tücken. Foto: ©iStock.com/Drazen Zigic

Reproduktionszahl und SARS-CoV-2: Wichtiger Wert mit Tücken

Keine Nachrichtensendung ohne R-Wert: Die Reproduktionszahl ist bei Infektionskrankheiten ein wichtiger Gradmesser. Sie zeigt an, wie schnell sich Infektionskrankheiten wie SARS-CoV-2 ausbreiten. Aber sie hat auch ihre Tücken. Das fängt schon damit an, dass es nicht nur eine Reproduktionszahl gibt.

Die Pandemie hat uns alle zu Hobby-Epidemiologen und Epidemiologinnen gemacht – wenn auch unfreiwillig. Und die Alltagssprache – nun ja – bereichert: Wir reden von Inzidenzen, als hätten wir nie etwas anderes getan, von Aerosolen, Inkubationszeiten und Hybrid-Unterricht. Und natürlich vom R-Wert, über den wie eine tägliche Fieberkurve der Nation jeden Tag in den Nachrichten berichtet wird.

Wer wissen will, wie schnell sich ein Virus ausbreitet, braucht die Reproduktionszahl. Sie zeigt an, wie viele Menschen ein Infizierter oder eine Infizierte ansteckt. Liegt der Wert über 1, breitet sich die Krankheit mit wachsender Geschwindigkeit aus. Liegt er unter 1, wird die Ausbreitung eingedämmt. Die Reproduktionszahl zu bestimmen ist alles andere als einfach – und ganz exakt kann sie nicht sein. Sie hängt unter anderem davon ab, wie viel getestet wird. Hinzu kommt: Es gibt nicht nur eine Reproduktionszahl, sondern mehrere.

R Null: Die Basisreproduktionszahl von SARS-CoV-2

Da ist einmal R0 (gesprochen: „R Null“); es ist die Basisreproduktionszahl einer Krankheit. Dieser Wert sagt aus, wie viele Menschen eine infizierte Person ansteckt, wenn noch niemand in der Bevölkerung immun ist, es keinen Impfstoff gibt und auch keine Maßnahmen zur Eindämmung des Virus getroffen sind.

Coronaimpfung. Foto: CC0 (Stencil)
Coronaimpfung. Foto: CC0 (Stencil)

Ein R0 von 1 bedeutet: 100 Infizierte infizieren weitere 100 Menschen. Liegt er bei 2 verdoppelt sich das Ganze. Liegt er hingegen bei 0,5 infizieren 100 Kranke 50 weitere Gesunde.

Die Reproduktionszahl stellt auch eine Vergleichbarkeit her (s. Grafik). Mit einem R0 von zwei bis 2,5 (Quelle: VaccinesToday) gilt SARS-CoV-2 als hochinfektiös – ungefähr doppelt so hoch wie Influenza-Viren. Von Quelle zu Quelle unterscheidet sich die Basisreproduktionszahl für SARS-CoV-2 teilweise; aber die Spanne liegt irgendwo zwischen zwei und vier. Spitzenreiter auf der Liste sind die Masern mit einer Basisreproduktionszahl von 16 bis 18. 

Das ist auch der Grund, warum die Masern eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent benötigen (und das mit zwei Impfdosen), um eliminiert zu werden. Bei COVID-19 rechnet man eher mit einem Wert zwischen 60 bis 70 Prozent. Dann wäre die so genannte Herdenimmunität – der Gemeinschaftsschutz – erreicht.

Die Basisreproduktionszahl ist ein Wert am Anfang eines Infektionsgeschehens – und interessiert uns deshalb jetzt im Grunde nicht mehr. Dr. Peter English, seines Zeichens Mediziner und Berater im britischen Gesundheitswesen, schreibt dazu auf seinem Blog: „Es geht jetzt nicht um R0. R0 impliziert eine Gesellschaft im Normalmodus. Der R-Wert hängt ab vom Virus und vom Verhalten. Er wird beispielsweise in Kulturen, die sich die Hände geben, höher sein als in anderen.“ Auch ein Küsschen links, Küsschen rechts zur Begrüßung hilft nicht wirklich.

Wenn das Robert-Koch-Institut nun einen R-Wert für SARS-CoV-2 von 0,87 berichtet (Stand: 19. Januar), ist das kein Widerspruch zum oben gesagten. Es ist der R-Wert, der berücksichtigt, dass Maßnahmen wie Lockdowns ergriffen worden sind, dass es in der Gesellschaft erste Immunitäten gibt, dass ein größer werdender Kreis von Menschen geimpft ist. Der täglich vermeldete Wert ist kein R0, sondern ein Re, auch die „effektive Reproduktionszahl“ genannt. Sie ist der Gradmesser, ob Maßnahmen zur Eindämmung der Virusübertragung greifen oder sich das Infektionsgeschehen weiter ausbreitet. Es ist im Übrigen eine zusammengefasste 4-Tage-Reproduktionszahl (bzw. ein 7-Tage-Mittel), um Zufallseffekte einzelner Tage zu nivellieren.

Social Distancing: Versicherung gegen SARS-CoV-2

Fällt die effektive Reproduktionszahl unter 1, ist der Job noch nicht getan, denn es ist nicht egal, ob sie sich bei 0,5 oder beispielsweise bei 0,9 einpendelt, wie diese Hochrechnung des Mediziners English zeigt. Seine Hypothese startet am 9. Mai 2020 mit 136.000 bestätigten Fällen:

Social Distancing. Foto: ©iStock.com/Drazen Zigic
Social Distancing. Foto: ©iStock.com/Drazen Zigic
  • Bei einem R-Wert von 0,5 halbiert sich im 4-Tages-Intervall die Zahl der Neuinfektionen. Bereits Ende Juni, also rund sechs Wochen später, fällt die Zahl der neuen Fälle unter 100. Anfang August ist sie bei null.
  • Bei einem R-Wert von 0,9 ist die Lage eine vollkommen andere. Hier kommen selbst Anfang August rund 26.000 Fälle pro Woche hinzu. Und im März des darauffolgenden Jahres sind es noch rund 64 Fälle. Das Ausschleichen der Krankheit dauert in diesem Modell viele Monate länger. Aus August wird März.

Das zeigt: Es reicht nicht, die Reproduktionszahl einfach nur „unter 1“ zu drücken. Denn wenn Lockerungen zu früh kommen, hat das Virus schnell wieder freie Fahrt.

Die Modellrechnung ist auch ein Hinweis, dass weniger strenge Eindämmungsmaßnahmen der Kategorie „light“ die Pandemie eher verlängern werden. Der Unterschied zwischen einem Re von 0,5 und 0,9 zeigt, dass eine „Hit-hard-and-early-Strategie“ schneller zum Ziel führen kann. Fest steht: Solange nicht ausreichend Menschen geimpft sind, sind Maßnahmen des Social Distancing die wirksamste Versicherung gegen SARS-CoV-2.

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