Durch die Pandemie wurde vieles möglich  was bisher unmöglich schien – das gilt vor allem für die medizinische Forschung. Wirkt sie als Fortschrittsbeschleuniger? Foto: ©Pfizer
Durch die Pandemie wurde vieles möglich was bisher unmöglich schien – das gilt vor allem für die medizinische Forschung. Wirkt sie als Fortschrittsbeschleuniger? Foto: ©Pfizer

SARS-CoV-2: Die Pandemie als Revolutionär?

Durch die Pandemie wurde vieles möglich, was bisher unmöglich schien – das gilt vor allem für die medizinische Forschung. Wirkt die Pandemie als Fortschrittsbeschleuniger? Und wird das nach der Pandemie anhalten? Über das Gesundheitssystem der Zukunft wurde im Rahmen einer vom Unternehmen Pfizer durchgeführten Veranstaltung „laut nachgedacht“ – mit überraschenden Einsichten.

Wie durch ein Brennglas hat die Pandemie gezeigt, was möglich ist, wenn alle an einem Strick ziehen: In weniger als zehn Monaten ist es gelungen, einen Impfstoff gegen SARS-CoV-2 zu entwickeln und zuzulassen. Im zweiten Jahr der Pandemie stehen sogar gleich mehrere zur Verfügung – und mit ihnen das zentrale Instrument, um diesem weltweit agierenden Virus den Garaus zu machen.

Prof. Markus Kosch, Pfizer Oncology. 
Foto: ©Pharma Fakten
Prof. Markus Kosch, Pfizer Oncology.
Foto: ©Pharma Fakten

Eine Selbstverständlichkeit ist das nicht. Bisher war man von deutlich längeren Entwicklungs- und Zulassungszeiten ausgegangen. Wenn es stimmt, dass die Pandemie ein „Fortschrittsbeschleuniger“ oder ein „Game-Changer“ ist, dann gibt es offenbar Barrieren, die die Menschheit daran hindert, innovativ – und in diesem Fall lebensrettend innovativ – zu sein. Über diese Barrieren diskutierten virtuell Eva Schumacher-Wulf, Gründerin des Brustkrebsmagazins Mamma Mia!, Thomas Schulz, Journalist des Magazins „Der Spiegel“, Autor des Buchs „Zukunftsmedizin“ und Kenner des Silicon Valleys, sowie Prof. Markus Kosch, der bei Pfizer den Onkologie-Bereich verantwortet.

Geteilte Gesundheitsdaten – bessere Arzneimitteltherapien

Ein Hemmnis, da waren sich alle einig, ist der in Deutschland zögerliche Umgang mit Gesundheitsdaten. In einer Pfizer-Umfrage hatte rund ein Drittel der Befragten angegeben, dass es ohne Daten keinen Fortschritt gäbe, und erklärte sich bereit, diese für die medizinische Forschung zur Verfügung zu stellen. Das seien wenige, befand die Brustkrebspatientin Schumacher-Wulf; sie kennt aus ihrer Erfahrung ganz andere Zahlen: Schwerkranke Menschen seien nämlich zur überwiegenden Mehrheit dazu bereit, Daten zur Verfügung zu stellen. „Daten sind die Basis für medizinischen Fortschritt. Ohne sie können wir die immer zielgerichteteren Therapien der Zukunft gar nicht weiterentwickeln.“ Wer krank ist, weiß, was Gesundheitsbits und -bytes wert sind.

Spiegel-Autor Schulz sieht als Herausforderung, dass der Begriff Daten hierzulande „negativ konnotiert“ sei – er spricht lieber von Gesundheitsinformationen. Die brauche man aber dringend, um Fortschritt zu erzeugen. Das zeige das Beispiel Israel, das durch seine sehr schnell ausgerollte Impfkampagne mit dem mRNA-Impfstoff in kürzester Zeit eine große Menge an Informationen liefern konnte; das hat den Erkenntnisgewinn bei dieser gänzlich neuen Impftechnologie enorm beschleunigt – ein Wissen, von dem nun die ganze Welt profitiert.

Fortschritt in der Medizin: Am Ende eine riesige Rechenaufgabe?

Doch hierzulande herrscht eine Risiko-Nutzenbetrachtung vor, die dafür sorgt, dass die Gefahren von Informationsspeicherung und -teilung hoch bewertet und die Chancen, die sich daraus ergeben, nicht gesehen werden. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum es in den USA ein Silicon Valley gibt und in Deutschland nicht. Dort, so berichtet Schulz, definiert sich Fortschritt über das Verarbeiten großer Datenmengen. Ein Beispiel: Auf der Suche nach einem sicheren Bluttest für eine schnellere Krebsdiagnose arbeiten Forschende an dem Verfahren der Liquid Biopsy, also an flüssigen Gewebeproben. „Am Ende ist das eine riesige Rechenaufgabe, weil jede dieser Blutproben bis zu vier Terrabyte an Daten hat. Und dafür braucht man entsprechende technologische Kapazitäten. Und die haben sie im Valley.“ Es ist ein „Mikrokosmos für Innovation“.

Aber es ist nicht alles schlecht: Deutschland beheimatet Spitzenforschung – das zeigt auch, aber nicht nur das Beispiel von Biontech aus Mainz.

Deutschland beheimatet Spitzenforschung. 
Foto: ©iStock.com/Gorodenkoff Productions
Deutschland beheimatet Spitzenforschung.
Foto: ©iStock.com/Gorodenkoff Productions

Pfizer-Wissenschaftler Kosch sieht nicht das Problem, dass es an Ideen oder Innovationen mangelt. „Aber wir schaffen es hierzulande nicht, die PS auf die Straße zu bringen.“ Bei der Translation, also der Übertragung von guten Ideen in Unternehmensgründungen, hapere es, auch weil das entsprechende Wagniskapital fehlt. Für Kosch ist das ein echtes Forschungshindernis. Die Folge: ein „Braindrain“, den auch Silicon Valley-Kenner Schulz beobachtet. In den vergangenen Jahren sei viel Fachpersonal aus Medizin und Biologie von Deutschland in die USA gegangen. Die Menschen bekämen dort für ihre Ideen mehr Geld und mehr Tempo als hierzulande.

Zulassungsverfahren auf der Überholspur

Wenn es darum geht, die Rahmenbedingungen für Innovation zu verbessern, hat Europa und eben auch Deutschland einige Stellschrauben, an denen gedreht werden kann. Als ein Beispiel dienten auf dem virtuellen Podium dafür die beschleunigten Zulassungsverfahren, die während der Pandemie zum Einsatz kamen. Beim so genannten Rolling Review beginnen die Behörden mit dem Sichten und Bewerten von Daten noch während die entsprechenden Studien laufen. Aus einem seriellen wird ein paralleler Prozess: „Ohne an der Qualität Zugeständnisse machen zu müssen: Damit spart man Monate Zulassungsprüfzeit, an Bürokratie, die sich unmittelbar in Patientennutzen überträgt“, sagt Professor Kosch. Gefordert seien Flexibilität und mehr Ressourcen. Aber er hofft, dass die Beschleunigung Standard wird. Pfizer hat selbst gerade ein immunonkologisches Blasenkrebsmedikament über ein solches Überholspurverfahren zur Zulassung gebracht. Dahinter steckt der Gedanke, dass Menschen mit lebensbedrohlichen Erkrankungen keine Zeit haben. Sie brauchen das Medikament nicht in einem halben Jahr, sondern jetzt.

Wollte man die Diskussion zusammenfassen, ergeben sich folgende Punkte, an denen ein Gesundheitssystem der Zukunft arbeiten muss, wenn es für sich in Anspruch nehmen will, aus einer der größten Gesundheitskrisen der Geschichte etwas gelernt zu haben:

  • Das Wohl der Patient*innen ist das entscheidende Kriterium. Was wie eine Binsenweisheit klingt, ist offenbar keine, wie Eva Schumacher-Wulf ausführte: „Ich möchte, dass an jedem Tisch, an dem über Patienten entschieden wird, auch ein Patientenvertreter sitzt.“ Das Credo: Es soll mit den Patient*innen und nicht über sie entschieden werden. Bei Fragen der Versorgung, aber auch bei der Entwicklung neuer Therapien gilt es, Patient*innen zu hören und einzubinden.
  • Die Einstellung zu und der Umgang mit Gesundheitsinformationen muss sich ändern. Pfizer-Deutschland-Chef Peter Albiez formulierte es so: „Wir müssen uns dem Öffnen. Wir dürfen nicht stecken bleiben in dieser Befangenheit, denn dahinter steht die Chance auf Heilung.“
  • Die Rahmenbedingungen müssen innovationsoffener gestaltet sein. Das Silicon Valley als Blaupause zeigt, dass die Konzentration von Wissen, von Fachpersonal und Geld ein entscheidenden Erfolgsfaktor für Innovation ist. Die Substanz ist da – so weit herrschte hier Einigkeit. Aber: „Das Valley hat eben ganz, ganz viele Biontechs“, so Spiegel-Autor Schulz mit Blick auf das Mainzer Biotechunternehmen mit frisch erlangtem Weltruhm.
  • Die Pandemie hat gezeigt, was möglich ist, wenn Barrieren überschritten und Silos niedergerissen werden. Kooperationen nicht nur zwischen den verschiedenen Akteur*innen im Kosmos von Forschung, Medizin und Gesundheitswesen, sondern auch von Unternehmen untereinander sieht Prof. Kosch als einen „extrem beschleunigenden Faktor. Jeder hat gesehen, dass eine gute Idee allein nicht ausreicht“, vielmehr brauche es die Kooperation. Die Hoffnung ist, dass die Pandemie neue Wege der Zusammenarbeit aufgezeigt hat, denn an Gesundheitskrisen mangelt es nicht: Die Antibiotika-Resistenzproblematik, der drohende Alzheimer-Tsunami, HIV, Krebs, aber auch „neuzeitliche“ Epidemien wie die nicht-alkoholische Fettleber-Erkrankung oder die vielen „vernachlässigten Krankheiten“ der Tropen – sie alle könnten vom Geist der Kooperation profitieren. Und damit die Menschen, die darunter leiden.
Pandemie als Beschleuniger: In weniger als zehn Monaten zu einem Impfstoff. 
Foto: ©iStock.com/Roop_Dey
Pandemie als Beschleuniger: In weniger als zehn Monaten zu einem Impfstoff.
Foto: ©iStock.com/Roop_Dey

Spiegel-Mann Schulz zieht aus der Pandemie auch viel Optimismus. „Die letzten Monate haben gezeigt, dass vieles besser und schneller geht und das zum Wohle des Patienten – wenn man denn nur will. Und ohne dabei alle Vorsicht fahren zu lassen.“ Die rasante Entwicklung der Coronavirus-Impfstoffe zeige ja, „dass wir die Möglichkeiten haben, schneller zu sein und trotzdem genauso sicher zu neuen Therapien und Diagnostika zu kommen.“ Für ihn steht fest, dass sich für die Patient*innen „vieles ändern wird.“

Wenn das stimmt, hieße das: Wir haben aus der SARS-CoV-2-Pandemie gelernt. Das wäre immerhin etwas. Denn nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Und wer weiß, vielleicht lässt sich ja dann der bisherige Weltrekord – ein Impfstoff in zehn Monaten – noch unterbieten. Dann hätte die Pandemie geradezu revolutionäre Veränderungen nach sich gezogen.

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