Der rasante Zuwachs medizinischen Wissens stellt uns vor Herausforderungen. Ein Gespräch mit Dr. Daniel Kalanovic  Pfizer  über kollektive Intelligenz und die Möglichkeiten der digitalen Transformation. Foto: ©iStock.com/ipopba
Der rasante Zuwachs medizinischen Wissens stellt uns vor Herausforderungen. Ein Gespräch mit Dr. Daniel Kalanovic Pfizer über kollektive Intelligenz und die Möglichkeiten der digitalen Transformation. Foto: ©iStock.com/ipopba

Forschung: Aus Wissen anwendbares Wissen gewinnen

Der rasante Zuwachs medizinischen Wissens stellt unsere Gesellschaft vor Herausforderungen. Wie können wir aus Publikationen, wissenschaftlichen Diskussionen und Expertenmeinungen anwendbares Wissen gewinnen, das in der Forschung und Praxis eingesetzt werden kann? Ein Gespräch mit dem medizinischen Direktor von Pfizer Deutschland, Dr. Daniel Kalanovic, über kollektive Intelligenz, die Möglichkeiten der digitalen Transformation und die Chance, Spitzenmedizin zu ´demokratisieren`.

Herr Dr. Kalanovic, alle 73 Tage verdoppelt sich das medizinische Wissen, so heißt es. Brummt Ihnen der Schädel?

Dr. Daniel Kalanovic, medizinischer Direktor von Pfizer Deutschland. Foto: Kathrin Harms
Dr. Daniel Kalanovic, medizinischer Direktor von Pfizer Deutschland. Foto: Kathrin Harms

Dr. Daniel Kalanovic: Wenn ich alles lesen müsste, was täglich neu hinzukommt, würde ich tatsächlich ein gesundheitliches Problem bekommen. Die Corona-Pandemie hat einem breiteren Publikum vorgeführt, wie lebendig und dynamisch wissenschaftliche Diskussionen sind. Annahmen werden getroffen, wieder verworfen, neue Fakten werfen neue Fragen auf, Expert:innen diskutieren leidenschaftlich und das ist ganz normal. Das ist vor allem eine Herausforderung für behandelnde Ärzt:innen: Wie kann ich mir sicher sein, die bestmögliche Behandlung anzubieten und gemeinsam mit den Patient:innen auszuwählen?

Niemand kann solche Datenmengen verarbeiten. Droht uns, dass wir vor lauter neu generiertem Wissen den Überblick verlieren?

Kalanovic: Das glaube ich nicht. Aber wir müssen mit dem Wissen anders umgehen, es strukturieren. Das Problem bei der Geschwindigkeit des Wissenszuwachses entsteht, wenn keine Integration des Wissens in die Praxis stattfindet – aus Zeitgründen, aus mangelndem Kooperationswillen oder weil wir veraltete Prozesse nutzen. Es gibt gute Bespiele für neue Lösungsansätze, die Ärzt:innen im Alltag helfen und von denen auch Patient:innen profitieren können. Der erste Schritt: Kuratiertes, Leitlinien-basiertes Wissen, einschließlich konkreter Handlungsempfehlungen, maßgeschneidert auf die behandelnden Ärzt:innen. Das wird zunehmend im Klinikalltag genutzt, quasi als „lebendiges Nachschlagewerk“: abrufbar per Smartphone, passend für die Kitteltasche. Aber das ist erst der Anfang.

Das müssen Sie genauer erklären…

Kalanovic: Wir müssen die Nachschlagewerke besser mit neuen Publikationen, aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen und Expertenmeinungen verbinden. Dabei sollten Verknüpfungen, aber auch „weiße Flecken“ im Wissen aufgezeigt werden. So könnten wir es schaffen, eine Landkarte des klinischen Wissens aufzumalen, die Ärzt:innen und Patient:innen jederzeit Orientierung geben kann.  Ich denke, dass wir künftig mehr und bessere digitale klinische Entscheidungshilfen sehen werden. Sie werden so selbstverständlich sein, wie heute Navigationssysteme im Auto.

So machen wir aus Wissen anwendbares Wissen?

Digitale Anwendungen als klinische Entscheidungshilfen. Foto: ©iStock.com/metamorworks
Digitale Anwendungen als klinische Entscheidungshilfen. Foto: ©iStock.com/metamorworks

Kalanovic: Genau. Kürzlich hat es ein Arzt so formuliert: „An Informationsangeboten mangelt es nicht, aber ich brauche Hilfe dabei, ´Rauschen und Signal` voneinander zu trennen.“ Da sehe ich einerseits Potenziale bei der Wissensvermittlung: Wie können Ärzt:innen schneller relevante Informationen für die Behandlungsentscheidung finden? Andererseits besteht großes Potenzial für so genannte ´decision support tools`, also digitale Anwendungen, die auf Basis großer Datenmengen und schlauer Algorithmen Diagnosevorschläge machen oder sogar Therapieoptionen aufzeigen. Ich sehe aber auch, dass wir klinische Erfahrungen, wissenschaftliche Erkenntnisse und Patientenerfahrungen noch besser und schneller untereinander teilen können.

Welche Rolle spielt dabei die Künstliche Intelligenz (KI)?

Kalanovic: Für bestimmte Bereiche in der Medizin wird die KI eine große Bedeutung haben, z.B. im Aufdecken von bestimmten ´Diagnose-Mustern.` Das erklärt die Erfolge von KI bei der Diagnose von seltenen Erkrankungen, in der Bildgebung oder beim Erkennen von Hautveränderungen.

Ich habe mich mit dem ´Literaturverständnis` von KI beschäftigt: Wie kann mir KI dabei helfen, Passagen in Fachpublikationen herauszufiltern, die sich mit praktischen Aspekten einer bestimmten Therapie beschäftigen? Zum Beispiel wie Ärzte in einer Studie mit einer bestimmten Nebenwirkung umgegangen sind. Diese Abschnitte schaffen es oft nicht in das Schlagwortverzeichnis eines Artikels, sind aber von hohem praktischem Interesse. KI könnte uns helfen, wenn sie medizinische Artikel ´liest` und ´versteht` und für uns bestimmte Abschnitte herausarbeitet. Meine Erfahrung war bisher allerdings eher ernüchternd. Es scheint, als seien wir von der Lösung dieser Aufgabenstellung – zumindest in der Medizin – noch relativ weit entfernt. Die Beschäftigung mit der KI hat mir auch die Stärke der menschlichen Intelligenz vor Augen geführt. Zweideutigkeiten auflösen, das Denken in Umkehrschlüssen oder ´Was-wäre-wenn?`: All das fällt Maschinen schwer und einiges davon ist meines Wissens bisher kaum in Computersprache umzusetzen.

Sie haben bei Pfizer eine Initiative zur Nutzung der kollektiven Intelligenz ins Leben gerufen – was ist das Ziel und wie funktioniert das?

Persönlicher Kontakt soll keinesfalls ersetzt werden. Foto: CC0 (Stencil)
Persönlicher Kontakt soll keinesfalls ersetzt werden. Foto: CC0 (Stencil)

Kalanovic: Mein Team und ich haben uns in den vergangenen Jahren zunehmend mit einer besseren Nutzung der menschlichen kollektiven Intelligenz beschäftigt. Wie gelingt es uns künftig, die Erfahrung und das Wissen einer Vielzahl von Ärzt:innen und Wissenschaftler:innen, mit denen wir täglich Informationen austauschen, für beide Seiten strukturierter für den wissenschaftlichen Fortschritt nutzbar zu machen? Dabei ist wichtig, dass Wissen aggregiert wird, d.h. in strukturierter Form abgefragt und ausgetauscht wird. Wir experimentieren mit digitalen Instrumenten, die es uns erlauben, die Kriterien der kollektiven Intelligenz zu erfüllen. So bilden wir Pfizer-interne Netzwerke zur Beantwortung von komplexen Fragen in Zusammenhang mit unseren Medikamenten und Impfstoffen.

In einem zweiten Schritt wollen wir die gewonnenen Erfahrungen und Kommunikationswerkzeuge zunehmend in unsere Dialoge mit Ärzt:innen und Patient:innen einbringen. Wichtig ist dabei: Der persönliche Kontakt soll keinesfalls ersetzt werden, aber der Dialog durch eine höherwertige Dokumentation des beidseitigen Wissens aufgewertet werden.

Haben Sie keine Sorge vor einer „Zwei-Klassen-Medizin“ nach Postleitzahlen? Hier die Spitzenzentren, die auf höchstem Niveau arbeiten können, weil es ihnen besser gelingt, Wissen nutzbar zu machen und dort die so genannte „Versorgung in der Fläche“, die das gar nicht leisten kann?

Kalanovic: Im Gegenteil: Ich glaube, dass die digitale Transformation ein hohes Potential hat, hochwertige Medizin zu ´demokratisieren` und überall auf der Welt nutzbar zu machen. Nehmen Sie als Beispiel den Einsatz von KI auf dem Smartphone zur Diagnose oder Vordiagnose auf Basis der Symptome, die eine Patientin verspürt. Sie bekommt eine erste Einschätzung – egal wie weit entfernt sie sich von der nächsten Ärztin befindet. Auch das Prinzip der kollektiven Intelligenz und der damit einhergehenden Bildung von lebendigen Wissens-Netzwerken ist prinzipiell ortsunabhängig und die Dezentralität sogar ein Qualitätsmerkmal. Die Telemedizin, die durch die Pandemie einen Schub bekommen hat, kann ebenfalls dabei helfen, medizinische Spitzenversorgung dorthin zu bringen, wo die Infrastruktur einer Großstadt einfach nicht gegeben sein kann. Die ´Flut des Wissens` klingt erstmal negativ, birgt aber etwas sehr Positives: Sie zeigt, dass wir in enormer Geschwindigkeit ständig dazulernen, um Krankheiten immer besser gerüstet entgegentreten zu können. Wenn es uns gelingt, dieses Wissen im Sinne der kollektiven Intelligenz zu verarbeiten, können alle davon profitieren.

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