100 bis 200 Menschen pro eine Millionen Einwohner:innen sind von Myasthenia gravis betroffen. Die Forschung hat einiges über die Krankheit gelernt. Foto: ©iStock.com/phive2015
100 bis 200 Menschen pro eine Millionen Einwohner:innen sind von Myasthenia gravis betroffen. Die Forschung hat einiges über die Krankheit gelernt. Foto: ©iStock.com/phive2015

Myasthenia gravis: Die seltene „Schneeflocken“-Krankheit

Es war das Jahr 1672: Ein englischer Arzt beschrieb zum ersten Mal die „Myasthenia gravis“. Seitdem hat die Forschung einiges gelernt: „Was einst eine relativ unbekannte Erkrankung darstellte, die hauptsächlich für Neurologen von Interesse war, ist nun die am besten […] verstandene Autoimmunerkrankung“, so der US-amerikanische Wissenschaftler James F. Howard. Gekennzeichnet ist sie durch eine schwere Muskelschwäche – die auch die Atmung betreffen kann. Heute ist sie immer besser behandelbar.

100 bis 200 Menschen pro eine Millionen Einwohner:innen sind von Myasthenia gravis betroffen. Es „ist eine chronische Autoimmunerkrankung, bei der die Übertragung vom Nerv auf den Muskel gestört ist“, erklärt Neurologin Dr. med. Sophie Lehnerer von der Charité Berlin im „Let´s talk Neuro“-Podcast des forschenden Pharmaunternehmens Alexion. „Autoimmun“ bedeutet: Das fehlgesteuerte Immunsystem greift körpereigene Strukturen an.

Myasthenia gravis: Übertragung von Nerv auf Muskel ist gestört. ©iStock.com/Dr_Microbe
Myasthenia gravis: Übertragung von Nerv auf Muskel ist gestört. ©iStock.com/Dr_Microbe

Anfangs ist meist die Augenmuskulatur betroffen: Die Patient:innen haben dann Doppelbilder – haben also Probleme klar zu sehen. Oder sie leiden unter hängenden Augenliedern. „Das kann so stark ausgeprägt sein, dass die Patienten manchmal mit Tesafilm bei mir in der Sprechstunde erschienen sind und sich die Augenlieder hochgeklebt haben, weil sie anders gar nicht ihre Augen offenhalten konnten“, so Lehnerer.

Generalisierte Myasthenia gravis: Belastungsabhängig

In ungefähr 80 bis 90 Prozent der Fälle weiten sich die Symptome innerhalb der ersten ein bis zwei Jahre auf weitere Körperteile aus – auf die Arme, Beine, Mimik, Hals, Atemwege. Die Rede ist dann von generalisierter Myasthenia gravis (gMG). Lehnerer berichtet von einer Patientin, die abends ihrem Sohn nicht mehr die Zähne putzen kann, weil ihr Arm zu schwach wird. Oder es kommt zu Kopfhalteschwäche, Schluckbeschwerden, Schwierigkeiten beim Sprechen und Kauen.

Typisch für die Erkrankung ist, dass die Muskelschwäche nicht gleichbleibend, sondern belastungsabhängig ist. Dadurch ist laut der Fachärztin „nicht vorhersehbar: Wie wird der nächste Tag, wie werden die nächsten Stunden?“ Die Symptome können von Person zu Person sowie von Uhrzeit zu Uhrzeit sehr unterschiedlich ausfallen – im Englischen ist der Begriff „Snowflake Disease“ geläufig; keine Schneeflocke gleicht der anderen.

gMG-Therapie: Beschwerdefreiheit!?

Inzwischen ist aber „eine große Bandbreite an potentiell wirksamen Therapien […] verfügbar“, schreibt der US-Amerikaner James F. Howard Jr. auf der Webseite der Stiftung „Myasthenia Gravis Foundation of America“. Lehnerer erklärt im Podcast: Oberstes Ziel sei heutzutage „die Beschwerdefreiheit oder zumindest die Minimierung der Myasthenie-Symptomatik“. Dazu gibt es unter anderem symptomatische Therapieoptionen sowie Immunsuppressiva – also Medikamente, welche die fehlgesteuerte Reaktion des Immunsystem unterdrücken.

Die Fachärztin erzählt von den Ergebnissen einer Untersuchung innerhalb der Deutschen Myasthenie Gesellschaft: 1.660 Betroffene haben Fragebögen rund um ihre Erfahrungen mit der Erkrankung ausgefüllt. „Hier berichten acht Prozent der Patienten, dass sie eine klinische Remission haben. Das bedeutet, dass sie keine Symptome haben und auch keine Medikamente nehmen müssen.“ Ungefähr ein Viertel der Befragten sagte, dass sie unter Medikation keine Symptome haben – es ist eine sogenannte „pharmakologische Remission“.

„Snowflake Disease“ fällt sehr unterschiedlich aus: Keine Schneeflocke gleicht der anderen. Foto: ©iStock.com/phive2015
„Snowflake Disease“ fällt sehr unterschiedlich aus: Keine Schneeflocke gleicht der anderen. Foto: ©iStock.com/phive2015

Wachsendes Wissen – Neue Therapieoptionen

Insgesamt geht man heute davon aus, dass 80 bis 90 Prozent der Patient:innen gut behandelbar sind. Doch es gibt auch Betroffene, die auf die Standard-Therapien nicht oder nicht ausreichend ansprechen oder sie aufgrund von starken Nebenwirkungen absetzen müssen. Die Patient:innen leiden weiterhin unter starken Symptomen; das Risiko für sogenannte myasthene Krisen – schwere Schübe, die lebensbedrohlich sein können und auch die Atemmuskulatur betreffen – ist erhöht.

Seit rund fünf Jahren steht für Menschen mit einem solchen „therapierefraktären“ Verlauf ein monoklonaler Antikörper zur Verfügung. Er bindet gezielt an ein bestimmtes Protein des Komplementsystems – ein Teil des Immunsystems – um es zu hemmen. Dieser künstlich hergestellte Antikörper ist Ergebnis davon, dass Wissenschaftler:innen immer besser verstehen, wie die Krankheitsprozesse ablaufen – und welche Rolle das Immun- bzw. Komplementsystem dabei spielt.

Die Forschung läuft weiter: Neurologe James F. Howard hofft, dass „die Abnormalität im Immunsystem“ bei Myasthenie in Zukunft kontrollierbar und womöglich heilbar wird. In der jüngeren Vergangenheit sei das Wissen um die „Verflechtungen der Immunfunktion“ schnell gewachsen. Nun stehe fest: „Es genügt nicht mehr, nur einen Arm des Immunsystems ins Visier zu nehmen […]“. Ganz unterschiedliche Therapieansätze und Wirkmechanismen sind daher in der Erprobung.

Klar ist aber auch: Medikamente allein reichen nicht immer. „Was wir in den Fragenbögen auch gelernt haben, ist, dass die Lebensqualität der Myasthenie-Patienten im Vergleich zur Normalbevölkerung reduziert ist“, so Lehnerer. Das gilt insbesondere für Frauen, ältere Patient:innen und Menschen mit niedrigem Bildungsstatus und Einkommen. Soziale Unterstützung – bei Alltagsaufgaben oder Ängsten – ist da „ganz, ganz wichtig“.

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