Neue Technologien werden den Umgang mit neurodegenerativen Erkrankungen in Zukunft auf den Kopf stellen. Das Zauberwort lautet: Neurotech. Foto: ©iStock.com/gorodenkoff
Neue Technologien werden den Umgang mit neurodegenerativen Erkrankungen in Zukunft auf den Kopf stellen. Das Zauberwort lautet: Neurotech. Foto: ©iStock.com/gorodenkoff

Wenn Neurologie auf Technologie trifft: Innovative Lösungen gegen Hirnerkrankungen

Der Blick in die Glaskugel ist immer mit Unsicherheit behaftet. Aber für den Wirtschaftsingenieur Dr. Thorsten Lambertus vom forschenden Biotechnologie-Unternehmen Biogen ist klar: „Die Zukunft der Neurologie wird spannend“. Das liegt nicht nur an Fortschritten in der pharmazeutischen Forschung. Auch neue, digitale Technologien könnten die Art und Weise, wie wir Menschen Hirn- und Nervenleiden begegnen, auf den Kopf stellen. Wie das geht? Das erklärt Dr. Lambertus im Interview.

Für Biogen sind Sie, Dr. Lambertus, im Bereich Neurotech tätig. Was heißt das?

Dr. Thorsten Lambertus: Das bedeutet, dass wir Neurologie und Technologie zusammenbringen. Es geht um den zunehmenden Einsatz technologiebasierter Innovationen in der Neurologie – zur Unterstützung der Patientinnen und Patienten mit Hirn- und Nervenkrankheiten sowie des Fachpersonals. Das können zum Beispiel Anwendungen sein, welche die Therapie der Betroffenen begleiten, ihnen ein Plus in Sachen Lebensqualität bieten oder die Diagnose vereinfachen.

Schon heute?

Wirtschaftsingenieur Dr. Thorsten Lambertus, Biogen. Foto: ©Biogen
Wirtschaftsingenieur Dr. Thorsten Lambertus, Biogen. Foto: ©Biogen

Lambertus: Natürlich. Ein Beispiel ist unsere Kooperation mit der Firma „Cambridge Cognition“ in Bezug auf Morbus Alzheimer: Ein Online-Selbsttest gibt Aufschluss, ob jemand eine leichte kognitive Beeinträchtigung hat. Dies kann bewirken, dass eine potenzielle Alzheimer-Erkrankung früher als bisher erkannt wird. Ein anderes Beispiel: Für Menschen mit der Nervenerkrankung Multiple Sklerose (MS) bietet Biogen zwei Apps an, die die medikamentöse Therapie begleiten können. „Cleo“ ist ein Alltags-Helfer mit Informationen – etwa rund um die Ernährung – und nützlichen Tools wie einem MS-Coach, der Fragen beantwortet. Darüber hinaus hat „Konectom“ den Krankheitsverlauf im Auge – indem die App Parameter wie Fein- sowie Grobmotorik oder die Kognition misst, die gegebenenfalls frühzeitig Hinweise auf einen drohenden Krankheitsschub geben können.

Bei Neurotech geht es also um technologische Lösungen für die Neurologie. Wie gelingt es, derartige Innovationen zu erarbeiten?

Lambertus: Pioniergeist ist gefragt. Unsere eigene Forschungspipeline ist gut gefüllt. Doch darüber hinaus wollen wir gemeinsam mit jungen Firmen neue Wege beschreiten. Aktuell tummeln sich viele Start-ups in der Neurotech-Szene. Ich bin daher Leiter des „Neurotechlab“ bei Biogen in Deutschland: Dort wollen wir uns mit innovativen Start-ups zusammentun, um gemeinsam neuartige Impulse für die medizinische Versorgung zu setzen. Wir lassen uns von neuen Trends, Erfindungen und Unternehmen inspirieren. Oder wir suchen ganz gezielt nach innovativen Lösungsmöglichkeiten für ein konkretes Problem im jetzigen Gesundheitssystem. Unsere Rationale dahinter: Es geht hier um die Zukunft der Neurologie – und wir wollen sie aktiv mitgestalten.

Und deshalb hatte Biogen im Dezember 2021 den „neurotechprize“ für den Bereich Morbus Alzheimer ausgeschrieben?

Lambertus: Genau. In Kooperation mit EIT Health, einer durch die Europäische Union geförderten öffentlich-privaten Partnerschaft, wollen wir so entsprechende Start-ups entdecken und fördern. Für den Preis konnten sich Start-ups sowie Forscherinnen und Forscher mit ihren Ideen für technologische Innovationen bewerben. Die Ansprüche waren groß: Uns ging es um Lösungsansätze, mit denen Morbus Alzheimer früher erkannt, die Krankheit besser überwacht, die Krankheitslast gemindert oder die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten gesteigert werden kann. Nach einem umfangreichen Auswahlverfahren sowie Mentoring- und Validierungsprozess hat nun ein unabhängiges Gremium bestehend aus Neurologen und Patientenvertretern die beiden Gewinner verkündigt, die mit 100.000 Euro bzw. 50.000 Euro prämiert werden.

Neurotech: technologische Lösungen für die Neurologie. Foto: ©iStock.com/marchmeena29
Neurotech: technologische Lösungen für die Neurologie. Foto: ©iStock.com/marchmeena29

Und?

Lambertus: Den ersten Platz machte „Five Lives“ aus Frankreich: Die App des Start-ups will es Nutzerinnen und Nutzern ab einem Alter von 50 Jahren ermöglichen, die Gesundheit ihres Gehirns anhand einer klinisch validierten Risikobewertung zu überprüfen. Auf dieser Basis kann die App Tipps zur Verbesserung des Lebensstils geben – und so helfen, das individuelle Risiko für eine Alzheimer-Erkrankung zu reduzieren. Zweiter Sieger wurde „Neurocast“ aus den Niederlanden: Dieses Start-up möchte die Überwachung von neurologischen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer vereinfachen. Neurocast nutzt dazu alltägliche digitale Interaktionen: zum Beispiel, die Art und Weise, wie jemand das Handy benutzt.

Dabei setzt das Start-up auf passives digitales Monitoring: So kann etwa die Standard-Tastatur des Smartphones durch die datengenerierende „Neurokeys“-Tastatur ersetzt werden. Das ermöglicht eine individuelle Leistungsüberwachung der Patientinnen und Patienten im Alltag. Ihre behandelnden Ärzte können dann schnell reagieren, wenn sich Veränderungen im Krankheitsbild ergeben.

Beeindruckend.

Lambertus: Und wie! Der neurotechprize hat auch mir nochmal eindrücklich vor Augen geführt, dass in der Zukunft der Neurologie noch so einiges passieren wird – und das gilt nicht nur in Bezug auf Morbus Alzheimer.

Wie könnte die Zukunft der Neurologie denn aussehen?

Lambertus: Mithilfe neuer Technologien werden wir Hirn- und Nervenkrankheiten eher als bisher diagnostizieren können. Wir werden besser wissen, welche Therapie zu welchem Patienten an welchem Zeitpunkt am besten passt – personalisierte Medizin lautet das Stichwort. Quasi auf Abruf haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Ärztinnen und Ärzte Zugang zu dem globalen Wissen ihres Fachgebiets sowie zu den kontinuierlich erfassten Daten des betroffenen Patienten oder der Patientin. Wir werden Arzneimittel schneller und effizienter entwickeln können – zum Beispiel, weil Technologien künstlicher Intelligenz und maschinellen Lernens bei der Auswertung klinisch relevanter, komplexer Gesundheitsdaten zum Einsatz kommen. Kurz: Die Zukunft der Neurologie wird spannend.

Verwandte Nachrichten

Anmeldung: Abo des Pharma Fakten-Newsletters

Ich möchte per E-Mail News von Pharma Fakten erhalten: