Die Sorge vor einer SARS-CoV-2-Herbstwelle wächst. Wie kann sich Deutschland vorbereiten? Das war Thema einer Expertenrunde von Springer Medizin und Pfizer. Foto: ©Pharma Fakten
Die Sorge vor einer SARS-CoV-2-Herbstwelle wächst. Wie kann sich Deutschland vorbereiten? Das war Thema einer Expertenrunde von Springer Medizin und Pfizer. Foto: ©Pharma Fakten

Pandemie: „Datenschutz und Föderalismus haben uns behindert“

Die Sorge vor einer SARS-CoV-2-Herbstwelle wächst. Wie kann sich Deutschland vorbereiten? Das war Thema einer Expertenrunde von Springer Medizin und dem forschenden Pharmaunternehmen Pfizer unter dem Titel: „SARS-CoV-2 – Wie können wir uns jetzt auf die nächste Welle vorbereiten?“

„Stell Dir vor, es ist Pandemie und keiner schaut hin“: So könnte man die aktuelle Lage kommentieren. Die Inzidenzen steigen mal wieder, aber „gefühlt“ ist die Gesundheitskrise weit weg (zumindest, wenn man nicht in einem Krankenhaus arbeitet oder infiziert ist). Fest steht auch: Für die warme Jahreszeit ist die Zahl der Infektionen hoch. Und mancher fragt sich: Was passiert, wenn erst die kalte Jahreszeit kommt?

Prof. Dr. Mathias Pletz. Foto: ©Pharma Fakten
Prof. Dr. Mathias Pletz. Foto: ©Pharma Fakten

„Auf den Intensivstationen liegen rund 1.000 Menschen, die wegen COVID behandelt werden“, ordnet Prof. Dr. Mathias Pletz, Professor für klinische Infektiologie am Uniklinikum Jena, die aktuellen Zahlen ein: „Das ist deutlich weniger als in Spitzenzeiten, da waren es knapp 6.000.“ Trotzdem: Für die Sommerzeit ist das ungewöhnlich, findet der Infektiologe. „Durch die Omikron-Welle sind wir bisher gut gekommen – allerdings gibt es große regionale Unterschiede.“ Momentan sieht Professor Pletz vor allem eine Herausforderung: Die steigende Zahl der erkrankten Mitarbeiter:innen in den Krankenhäusern. „Das kann sich in der Tat noch zu einem Problem auswachsen.“ Einen Grund, in Panik zu verfallen, sieht er nicht. Prof. Dr. Torsten Bauer vom Berliner Helios-Klinikum Emil von Behring pflichtet seinem Kollegen bei: „Ich habe aktuell mehr infizierte Mitarbeiter als Patienten.“

Alles gut also? Wenn man das wüsste.

Der Corona-Expert:innen-Rat der Bundesregierung hat 3 mögliche Szenarien entworfen: Neben einem günstigen Ausblick (neue Virusvariante mit nochmals verringerter krankmachender Wirkung), gibt es ein Basisszenario (ähnliche Krankheitslast wie aktuell) und einen ungünstigen Ausblick: „Eine neue Virusvariante mit einer Kombination aus verstärkter Immunflucht, respektive Übertragbarkeit und erhöhter Krankheitsschwere dominiert.“ Das hieße, dass auch vollständig Geimpfte ohne Zusatzimpfung bei Vorliegen von Risikofaktoren wie Alter, Schwangerschaft, Grunderkrankungen oder Immunsuppression einen schwereren Verlauf entwickeln könnten.“ Die Folgen wären: „Das Gesundheitssystem ist durch COVID-19-Fälle auf den Intensiv- und Normalstationen stark belastet.“ Es gäbe allerdings einen großen Unterschied zum Anfang der Pandemie: Eine fast 3-jährige Erfahrung damit, wie man mit diesem Virus und seinen Varianten umgeht.

Pandemie: Flache Lernkurven durch Datenmisere

Dr. Ruth Hecker, Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit
Dr. Ruth Hecker. Foto: ©Pharma Fakten

Mit dem Lernen macht es sich Deutschland aber selbst schwer. Ein Grund: Der Datenmangel. Dr. Ruth Hecker, Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, sagte: „Dass wir keine abschließenden Daten, nicht genug Daten und nicht die richtigen Daten haben, ist ja bekannt. Die Digitalisierung ist noch nicht so weit fortgeschritten, wie wir uns das alle wünschen würden. Das ist in anderen Ländern einfacher.“ Im Hinblick auf die kürzlich vorgelegte Evaluation der Pandemiemaßnahmen durch den von der Bundesregierung eingesetzten Sachverständigenrat, erklärte Prof. Dr. Herbert Rebscher, Ex-Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit: „Der Bericht bringt ja eines nicht: Eine Evaluation. Er schreibt ja lediglich, wo es eine Evaluation geben müsste, wenn man die entsprechenden Daten hätte.“ Professor Rebscher plädiert dafür, in einer Krise nicht immer zu warten, bis die letztgültige, wahre Evidenz vorliegt, sondern schneller zu handeln. Es ist ein Plädoyer für ein mutigeres Handeln auf Seiten der politischen Entscheidungsträger. Sonst laufe man in einer Gesundheitskrise der Entwicklung immer hinterher.

Das Kuriose: Viele der Daten sind da, sie werden erhoben, wie Professor Bauer betonte, aber offenbar nicht verknüpft: „Es gibt einen feststehenden Datensatz, der an die Krankenkassen geht, wo alles drinsteht. Den liefern wir an Tag 3.“ Für den Lungenexperten ist klar: „2 Haupthinderungsgründe für die Bewältigung der Pandemie waren: der Datenschutz und der Föderalismus im Gesundheitswesen.“ Die Daten seien alle da, aber man dürfe sie nicht weitergeben.

Kommunikation in Pandemiezeiten

Ein weiteres Schwerpunktthema des Sommertalks von Springer Medizin war die Kommunikation in der Pandemie. Patientenbeauftragte Hecker beklagte die Verunsicherung der Menschen durch die Masse und die Widersprüchlichkeit der gelieferten Informationen. Sie wünscht sich deshalb mehr Klarheit – vor allem von der Politik, aber auch von Seiten der Medien: „Die Kommunikation muss eindeutig sein, aber auch Unsicherheiten zugeben. Es verunsichert ganz viele Menschen, wenn bei wichtigen Dingen nicht mit einer Sprache gesprochen wird.“ Dass sich hier etwas ändert, glaubt der Ex-Vorstandvorsitzender Rebscher nicht. „Die Hoffnung, dass die Presse eine Mitteilung des Bundesgesundheitsministers einfach so weitergibt, habe ich nicht.“ Er sieht in dem Herausarbeiten der Unterschiedlichkeit der Meinungen im öffentlichen Diskurs eine wichtige Rolle der Medien. Merke: Verlautbarungsjournalismus ist kein Journalismus.

Kommunikationsexperte Prof. Christian Hoffmann von der Universität Leipzig berichtete von seiner Studie, nachdem die Bevölkerung im Großen und Ganzen mit den Unsicherheiten in Krisenzeiten ganz gut umgehen könne. „Wir stellen allerdings fest: Es gibt eine große Müdigkeit bei dem Thema. Und das wird mit dem Blick nach vorne eine Herausforderung.“ Denn nur informierte Menschen haben die Chance, für sich richtige Entscheidungen zu treffen.

Antivirale Arzneimittel: Nur verhaltener Einsatz in Deutschland

Prof. Dr. Torsten Bauer, Berliner Helios-Klinikum. Foto: ©Pharma Fakten
Prof. Dr. Torsten Bauer, Berliner Helios-Klinikum. Foto: ©Pharma Fakten

Das gilt insbesondere auch für den Bereich der antiviralen Arzneimittel, die zur Bekämpfung von COVID-19 zugelassen sind, aber in Deutschland nur sehr verhalten eingesetzt werden – offenbar, weil das Vertrauen in die neuen Substanzen noch nicht sehr ausgeprägt ist. Professor Bauer ist da eindeutig: „Die Medikamente wirken. Sie senken die Zahl der Krankenhausaufnahmen und die Patienten sind schneller testnegativ. Über die Daten müssen wir also nicht diskutieren.“ Worüber man allerdings reden müsse: Wie kommen denn Betroffene an das Medikament heran? Denn wer Symptome hat, soll ja gerade nicht in eine Praxis gehen. Er plädiert für einen neuen Weg: Wer positiv getestet ist, müsse sich telefonisch an Ärzt:innen wenden können, die ihm das Medikament verschreiben und über eine Apotheke nach Hause liefern lassen.  Bauer sagt aber auch: „Die Patienten müssen selbst aktiv werden. Sie müssen einfordern: Ich will das Arzneimittel haben.“ Und fordert sie zu mehr Eigenverantwortung auf: „Der Patient kann sich ja überlegen, ob er zu der Risikogruppe gehört und eventuell ein antivirales Medikament brauchen wird.“ Und das entsprechend mit seinem Arzt oder Ärztin vorab besprechen.

Experte fordert Grippeimpfung für Kleinkinder

Mit Blick auf den Herbst dürfte sich zumindest eines nicht ändern: Deutschland wird wohl aufgrund seines restriktiven Umgangs mit Gesundheitsdaten weiter durch einen dichten Pandemienebel segeln müssen. Aber noch eines macht den Gesundheitsexpert:innen Sorgen: Das Influenza-Virus, mit dem viele Menschen – vor allem Kinder – gar nicht oder länger keinen Kontakt hatten.“ Mit Blick auf Australien, wo bereits eine sehr schwere Grippewelle grassiert, die vor allem Kinder betrifft, sagt Professor Pletz: „Die Influenza bei Kindern hat eine höhere Morbidität und Mortalität als Corona. Eine Impfempfehlung halte ich gerade für Kleinkinder sehr wichtig.“

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