Zwischen 1990 und 2015 ist die Lebenserwartung in den USA um 3 3 Jahre gestiegen. Arzneimittel spielen dabei eine wichtige Rolle. Foto: ©iStock.com/deberarr
Zwischen 1990 und 2015 ist die Lebenserwartung in den USA um 3 3 Jahre gestiegen. Arzneimittel spielen dabei eine wichtige Rolle. Foto: ©iStock.com/deberarr

US-Studie: Arzneimittel erklären 35 Prozent der Erhöhung der Lebenserwartung

Zwischen 1990 und 2015 ist die Lebenserwartung in den USA um 3,3 Jahre gestiegen. Ein Team um den Harvard-Wissenschaftler Jason D. Buxbaum wollte herausfinden, was die wesentlichen Treiber sind – und kommt zu überraschenden Zahlen. Pharmazeutische Produkte spielen dabei eine wichtige Rolle.

Sie kommen so verlässlich wie der Herbst nach dem Sommer. Jedes Jahr zu dieser Zeit stapeln sich in Berlin die Berichte der Krankenkassen zum Arzneimittelmarkt in Deutschland, sei es der Arzneimittelverordnungsreport (AVR), der AMNOG-Report der DAK oder der Innovationsreport der TK. In der Regel sind sie ein Klagelied über gestiegene Preise gerade bei Arzneimittelinnovationen. Überraschend ist das nicht: Schließlich reden hier die über Arzneimittel, die nicht damit behandelt werden, sondern sie lediglich bezahlen müssen. Gefordert werden „faire“ Preise (was das wohl sein soll?) oder eine regulierende Hand (für einen der reguliertesten Märkte in unserem Lande). Auch die Sorge darüber, ob sich das Gesundheitssystem in Zukunft Innovationen leisten könne (die inklusive Mehrwertsteuer, Apotheken- und Großhandelszuschläge knapp acht Prozent der gesamten GKV-Ausgaben ausmachen), gehört zum Repertoire.

Eine Verhandlungslösung: Die Preise für neue Medikamente

Foto: ©iStock.com/WanjaJacob
Foto: ©iStock.com/WanjaJacob

Schlimmer noch: Die gestiegenen Preise stünden in keiner erkennbaren Relation zum therapeutischen Nutzengewinn. Es ist ein Satz der Herausgeber des AVR, der im herbstlichen Kassenreigen niemals fehlt. Ein Satz, der verwundert (vor allem, wenn er von einem Onkologen kommt): Denn seit 2011 werden neue Arzneimittel einem Zusatznutzenbewertungsverfahren unterzogen (das „AMNOG“). Der am Ende ausgehandelte Preis ist eine Verhandlungslösung zwischen Unternehmen und dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen – und soll idealerweise den Zusatznutzen eines neuen zu einem bereits erhältlichen Medikament abbilden. So betrachtet sind steigende Preise Ausdruck von Innovationsdynamik.

Und schließlich ist es ein Satz, der in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem steht, was beispielsweise führende Onkologen des Landes auf dem Hauptstadtkongress im vergangenen Jahr verkündeten (Pharma Fakten berichtete): Prof. Carsten Bokemeyer vom Zentrum für Onkologie am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf sprach von „Enthusiasmus“, der sich in der Onkologie breit mache, „weil für mich als Arzt und Wissenschaftler ist es schon eine fantastische Entwicklung, wie die Behandlung von bösartigen Erkrankungen in den letzten Jahren vorangekommen ist und welche zunehmend besseren Perspektiven wir Patienten heute ermöglichen.“

Zunächst einmal: Die Frage, ob der Preis eines Arzneimittels mit seinem Nutzen für Patienten korreliert, ist eine berechtigte. Das dachte sich auch das Team um den Harvard-Wissenschaftler Jason D. Buxbaum. Wenn medizinischer Fortschritt entscheidend zu einer besseren Überlebensrate beitragen würde, so ihre Rationale, würden dann steigende Kosten für Gesundheit nicht besser zu vermitteln sein? Dafür pflügten sie sich durch Datenbanken auf der Suche nach den Faktoren, die am deutlichsten dafür verantwortlich sind, die Lebenserwartung zu verändern. Das Ziel: zu quantifizieren, wie sehr die öffentliche Gesundheit, Arzneimittel, andere, nicht-medikamentöse medizinische Interventionen und weitere, unbekannte Faktoren dazu beitragen. Ihr Artikel ist im Fachmagazin Health Affairs erschienen.

Herz-Kreislauf-Medikamente verlängern Leben

Die Wissenschaftler haben zwölf Krankheiten und andere Todesursachen ausgewählt, bei denen Verbesserungen für ein Plus von 2,9 Lebensjahren der im Beobachtungszeitraum erzielten 3,3 Jahre verantwortlich zeichneten. Den größten Impact hatte dabei die ischämische  Herzerkrankung. Dass Menschen mit einem solchen Krankheitsbild länger leben, trug zu 53 Prozent zur Reduktion aller Todesfälle in den USA bei. Bricht man dieses Ergebnis weiter herunter, kommen Buxbaum und sein Team zu dem Ergebnis, dass dies zur Hälfte (52 Prozent) auf das Konto von Arzneimitteln (Blutdruck- und Cholesterinsenker) und zu sieben Prozent auf andere medizinische Interventionen (z. B. Operationen) zurück geht. 39 Prozent der Reduktion der Todesraten führen die Autoren auf „Public Health“* zurück (z.B. weniger Rauchen).

Reduktion der Todesraten wird auf „Public Health“ zurückgeführt. Foto: ©iStock.com/Krisamorn
Reduktion der Todesraten wird auf „Public Health“ zurückgeführt. Foto: ©iStock.com/Krisamorn

Noch deutlicher zeigen Medikamente ihren Nutzen bei Hirngefäßerkrankungen wie Schlaganfall. Hier tragen Blutdrucksenker, Statine und Antikoagulantien zu 60 Prozent zur Reduktion von Todesfällen bei. Oder andersherum: Gäbe es diese Medikamente nicht, wäre die Zahl der Toten nach Schlaganfall in den USA rund 60 Prozent höher.

Bei Brustkrebs zeigt sich ein ähnliches Bild – dort bilden neue Arzneimittel (60 Prozent) und frühes Screening (31 Prozent) ein erfolgreiches Paar: Allein diese beiden Faktoren sind für über 90 Prozent der vermiedenen Todesfälle in dieser Indikation verantwortlich.

Medikamentöser Nutzen bei HIV

Welchen Nutzen Medikamente für erfolgreiche Behandlungen haben können, zeigen Buxbaums Berechnungen bei zwei weiteren Beispielen – einem positiven und einem negativen:

  • Da die Wissenschaftler kein überzeugendes Rechenmodell fanden, die die gesunkenen Todesraten bei HIV erklärten, basieren ihre Daten auf Umfragen mit Experten. Diese schätzen den Anteil der HIV-Präparate, der zwischen 1990 und 2015 für die Verringerung von Todesfällen verantwortlich ist, auf 76 Prozent. Die Zahl wird durch andere Trends gestützt. Denn 71 Prozent der in den USA registrierten Aids-Toten wurden 1996-97 gezählt. Es war der Wendepunkt in der HIV-Behandlung. Mit der HAART-Therapie begann die Transformation von einer tödlichen in eine chronische Erkrankung (Pharma Fakten berichtete). Ohne Medikamente wäre das nicht möglich gewesen.
  • Tod als Folge einer Demenz- oder Alzheimererkrankung war einer der Faktoren, der die Lebenserwartung in den USA im Beobachtungszeitraum verkürzt hat. Da die Zahlen altersadjustiert sind, ist die Alterung der Gesellschaft keine Erklärung. Die Autoren vermuten, dass ein erhöhtes Bewusstsein und dadurch genauere Diagnosen ein Grund sein könnten. Ein weiterer dürfte sein: Es gibt bisher kein Medikament, das Demenzerkrankungen an der Ursache angreift. Das erste Alzheimer-Präparat seit 2002: Im nächsten Jahr könnte es soweit sein. Es sind ausschließlich neue Medikamente – und bessere Diagnose-Möglichkeiten – die Demenzerkrankungen ihren Schrecken nehmen werden. Oder die Zahlen werden weiter dramatisch steigen.

Aus den gewonnenen Daten zeichnen die Harvard-Wissenschaftler um Jason Buxbaum folgendes Bild: Demnach lassen sich 35 Prozent der in den USA zwischen 1990 und 2015 hinzugewonnenen Lebensjahre auf Arzneimittel zurückführen. Vermutlich wäre der Anteil sogar höher, denn die Opioid-Krise – der starke Anstieg der Zahl von Drogenabhängigen und Todesfällen im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Opioid-Schmerzmitteln – hat in der Statistik ihre Spur hinterlassen. Fazit der Autoren: „Auch wenn unsere Ergebnisse nicht direkt dafürsprechen, mehr Menschen mit Medikamenten zu behandeln, erklären sie doch die zentrale Rolle von Medikamenten in der Reduktion von Todesfällen.“ Politische Entscheidungsträger, resümieren sie, sollten bei der Beurteilung von Arzneimittelpreisen und der Ausgestaltung entsprechender Gesetze auch die gesamtgesellschaftlichen Gewinne berücksichtigen.

Was also ist dran an der Kritik von steigenden Preisen bei gleichzeitigem mangelnden Nutzen neuer Arzneimittel? Klar ist: Der reine Blick auf das Preisschild wird zum Aufreger werden, wenn …

 „Innovation“: Gegossen in ein Ampelsystem. Foto: ©iStock.com/makok
„Innovation“: Gegossen in ein Ampelsystem. Foto: ©iStock.com/makok
  • … ausschließlich Produktions-, aber nicht Entwicklungs- und Forschungskosten berücksichtigt werden, …
  • … die Innovationsleistung nicht anerkannt wird, …

… und/oder …

  • … gesamtgesellschaftliche Gewinne ausgeklammert werden.

Zudem spielt eine Rolle, dass neu entwickelte Therapien bei steigenden Entwicklungskosten so spezifisch sind, dass sie für immer kleinere Patientengruppen in Frage kommen – ein per se preistreibender Faktor.

Die US-Studie zeigt: Bei der Bewertung des Nutzens medizinischer Innovationen fehlt es an einheitlichen Kriterien – und überhaupt an einer Systematik. Das zeigt ein Blick in den TK-Innovationsreport. Dort wird „Innovation“ in ein Ampelsystem gegossen, dessen drei Faktoren „verfügbare Therapien“, „Zusatznutzen“ und „Kosten“ sind. Dabei kann man streiten, welchen Sinn es macht, Nutzen- und Kostenaspekte miteinander zu vermischen – schließlich hebt oder senkt der Preis eines Produktes nicht seinen Innovationsstatus. Auch die Ampel ist zu hinterfragen: Rot heißt wohl „nicht innovativ“ und/oder zu teuer. Grün dann wohl das Gegenteil. Aber was soll der Arzt bei Gelb herauslesen? Nur ein bisschen verschreiben?

Wir sehr das System hinkt, erkennt man an der Bewertung von zwei Hepatitis C-Medikamenten, die laut TK „nicht überzeugen“ können. Es sind zwei Wirkstoffkombinationen, die bis vor wenigen Jahren nur schwer behandelbare Erkrankung heilbar machen – in wenigen Wochen und fast ohne Nebenwirkungen.

Wenn das keine Innovation ist – was ist dann eine? Und übrigens: Seit ihrer Einführung kennen die Preise für diese Präparate nur eine Richtung – nach unten. Aber vielleicht ist die Ampel der TK ja nur einfach falsch verdrahtet.

*”Public health” wurde definiert als Reduktion in identifizierbaren Risikofaktoren für Verletzungen oder Erkrankungen, die nicht in den folgenden Kategorien klassifiziert werden konnten: Arzneimittel, andere (nichtmedikamentöse) medizinische Behandlungen (Krankenhausleistungen, Diagnosen, Screening, oder Operationen) sowie andere oder unbekannte Faktoren. 

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